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Kölns Leitender Impfarzt im Interview„Wir verhätscheln das Corona-Virus“

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Dr. Zastrow Premium OPIC

Für Dauerstress sorgt die Pandemie bei Dr. Jürgen Zastrow, der seine Praxis in Riehl hat. 

  1. Der HNO-Arzt Dr. Jürgen Zastrow (66) hat seine Praxis in Riehl, er ist Leitender Impfarzt in Köln und Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung.
  2. Thorsten Moeck sprach mit ihm über die Impfstrategie der Stadt, das Vakzin von Astrazeneca und das Brechen der Infektionswelle.

KölnIn Köln haben 250 000 Menschen ihre Erstimpfung erhalten. Sind Sie damit zufrieden?

Wir erleben zum ersten Mal eine solche Impfkampagne. Und das unter Mangelbedingungen, denn mit mehr Impfstoff hätten wir schneller impfen können. Hätten uns die Ministerien mehr Handlungsspielraum gelassen, wären wir auch schneller gewesen. Aber unter den gegebenen Bedingungen bin ich durchaus zufrieden.

Seit dem sogenannten Impfgipfel ist von einer Lockerung der Priorisierung die Rede. Sollen sich jüngere Menschen jetzt schon bei ihren Hausärzten auf Impflisten setzen lassen?

Seinen Impfwunsch kann jeder bekunden, aber es geht ja letztlich um realistische Einschätzungen. Ich bin durchaus für Lockerungen, aber nicht für die Aufhebung einer Impfreihenfolge. Das können wir uns gar nicht leisten, weil wir noch einen Mangel an Impfstoff haben. Aber ich möchte, dass die Entscheidung mehr in die Hand der Ärzte gelegt wird und weniger in die von Verwaltern in Ministerien. Die Freiheit der ärztlichen Berufsausübung wird enorm eingeschränkt. Und für diese Freiheit kämpfe ich.

Aber jeder Mensch und jeder Arzt setzt Prioritäten anders.

Es ist jedem einsichtig, dass Intensivpfleger zu impfen sind, ebenso die Ärzte. Anfangs hat es selbst da geruckelt. Teilweise sind die Menschen in Dienstkleidung von den Intensivstationen mit dem Taxi in die Seniorenheime gefahren, wo gerade Impfdosen übrig waren. Das war eine irre Situation. Wir versuchen immer auf Mängel in der Erlasslage zu reagieren.

Wo ziehen Sie die Grenze?

Für mich sind auch Kassiererinnen und Kassierer im Supermarkt impfwürdig, wenn sie Kontakt zu vielen Menschen haben. Nachdem ich das in einem Interview erzählt habe, hatten am nächsten Tag 200 Supermarkt-Mitarbeiter in meiner Praxis angerufen, um einen Impftermin zu bekommen. Das geht natürlich nicht, da muss jeder zu seinem eigenen Hausarzt gehen. Die meisten Ärzte gehen glaube ich sehr sorgsam mit der Entscheidung um, wen sie impfen. In einem Schreiben habe ich meine Kollegen aufgefordert, nach ärztlichen Gesichtspunkten zu impfen und nicht nur nach Erlasslage.

Dr. Zastrow

Wie sind die Impfungen in Ihrer Praxis organisiert?

Wir öffnen Mittwoch- und Freitagnachmittag, wenn normalerweise geschlossen ist, und impfen 20 Menschen pro Stunde. Und es gibt Impfveranstaltungen außerhalb der Praxis, wo dann mehr als 100 Menschen geimpft werden. Dafür können Bürgerzentren oder Gemeindezentren genutzt werden. Eine der wichtigsten Optionen ist der Hausbesuch.

Die Stadt hat den Blick auf die Stadtteile mit hoher Inzidenzzahl gelegt. Wie wollen Sie dort für Impftempo sorgen?

Hier befinden wir uns gerade in der Planung. In Meschenich, Chorweiler, Vingst oder Kalk wird es überall größere Impfevents geben. Da kommt das Impfsystem zu den Menschen. Mehrere Ärzte müssen sich zusammenschließen, den Impfstoff mitbringen und dann im Bürgerzentrum impfen. Und wir müssen Sozialstellen einbeziehen sowie Betreuer, um auch Menschen zu erfassen, die nicht gemeldet sind oder keinen Hausarzt haben. Diese Gruppe haben wir auch im Blick. Wie die Registrierung aussehen soll, wissen wir aber noch nicht. Wir wollen Obdachlose und auch Prostituierte impfen, damit da niemand zum Superspreader wird.

Viele Menschen sind mit Astrazeneca erstgeimpft. Empfehlen Sie den Wechsel auf einen anderen Impfstoff oder nicht?

Als Vertragsärzte haben wir ein Dilemma. Es gibt eine Vorgabe der Ständigen Impfkommission. Und die Bundesregierung kann nicht anders als diese Vorgabe zu übernehmen. In der internationalen Literatur lässt sich dies aber nicht wiederfinden. Die Europäische Impfkommission vertritt eine andere Auffassung. Oft ist Deutschland Ideengeber in Europa, aber hier ist man uns nicht gefolgt. Das ist besonders. International wird empfohlen den Impfstoff nicht zu wechseln. Die Vorgabe der Ständigen Impfkommission beruht auf Vermutungen, aber dafür ist diese Kommission nicht da. Man darf Äußerungen aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen erwarten. Das gibt auch uns Ärzten zu denken.

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Das Impftempo steigt, zugleich gibt es in Köln seit knapp zwei Wochen die Ausgangssperre. Bringt das die dritte Infektionswelle zum Brechen?

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir mal bei einer Inzidenz von 250 liegen werden. Eine Prognose fällt mir schwer, aber ich bin zuversichtlich, dass wir im August das Gröbste hinter uns haben. Aber wir wissen nicht, wie sich die Mutation der Viren entwickelt. Normalerweise verflachen sich Verläufe dadurch, aber durch die Langwierigkeit lernt das Virus an uns und bildet zunehmend schwierigere Stämme. Wir hätten voriges Jahr rigoros für drei Wochen das System runterfahren müssen.

Inzwischen herrscht aber eine Corona-Müdigkeit.

Wir verhätscheln das Virus. Mit mathematischer Genauigkeit bildet es all unsere Fehler ab. Da hilft kein Diskutieren, das Virus folgt naturwissenschaftlichen Gesetzen. Wir lassen uns Freiheiten. Und dem Virus. Prognosen sind da schwierig.

Schauen Sie sich abends noch Corona-Talkshows im Fernsehen an?

Die Corona-Pandemie nimmt derzeit jeden Tag zwölf Stunden Arbeitszeit bei mir ein. Auch am Wochenende. Wenn ich um 22 Uhr nach Hause komme und noch etwas esse, fällt mein Kopf um 22.30 Uhr zur Seite. Ganz unabhängig vom Fernsehprogramm.