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Interview mit Alice Schwarzer„Musste mich manchmal mit der Machete durchhauen“

Lesezeit 6 Minuten
Die Mitarbeiterinnen der feministischen Zeitschrift «Emma», Chantal Louis (l-r), Anett Keller, Margitta Hösel und Gründerin Alice Schwarzer sitzen am 18.01.2017 in Köln um einen Tisch.

Authentisch und streitbar: Feministin Alice Schwarzer.

Am Samstag wird Alice Schwarzer, Feministin und Gründerin des Magazins EMMA, 80. Jan Sting sprach mit ihr über ihre Kindheit in einem Holzhäuschen, Frauenrechte, Krieg und ihre ungeminderte Courage.

Welcher Pflock, den Sie in den vergangenen 50 Jahren setzten, hat Ihrer Ansicht nach Bestand?

Dass die Mehrheit der Frauen aufgewacht ist – und viele Männer nachdenklich geworden sind. Zumindest hoffe ich, dass das Bestand hat.

Ihre Freundin, die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, sagte, dass Sie sich neu erfunden haben. Können Sie Ihre „Erfindung“ beschreiben?

Tja. Ich denke, dass sie damit gemeint hat, dass ich von meinen Großeltern, die ja meine sozialen Eltern waren, nicht auf einen bestimmten Weg festgelegt wurde, sondern einfach losgelaufen bin. Ich habe mir ja auch meinen Beruf, meinen geliebten Beruf der Journalistin, hart erkämpfen müssen. Und der ganze Weg, den ich danach gegangen bin, war niemals eine sechsspurige Autobahn, sondern immer ein ziemlich schmaler, steiniger Pfad. Manchmal musste ich mich sogar mit der Machete durchhauen.

Was haben Ihnen die Großeltern, bei denen Sie aufwuchsen, mit auf den Weg gegeben?

Dass man bei Unrecht und Leid niemals wegguckt! Dass man auch als Mädchen und Frau ein vollwertiger Mensch ist! Und dass es immer was zu lachen gibt – gerade dann, wenn es eigentlich zum Heulen ist.

Bereits Ihre Großmutter war in Sachen Ökologie engagiert. Was war ihr wichtig?

Sie hat schon in den 1950er Jahren Briefe an den Wuppertaler Generalanzeiger geschrieben gegen die Pflanzengifte. Sie war auch eine engagierte Tierrechtlerin. Überhaupt war sie gegen Gewalt und für Gerechtigkeit. Sie hat die Nazis gehasst, in zwölf Jahren nicht einmal „Heil Hitler“ gesagt und so manchen Zwangsarbeiter durchgefüttert. Aber meinem lieben, armen Großvater hat sie das Leben schwer gemacht, aus Rache für ihr viel zu beengtes Hausfrauenleben.

Sie selbst bezeichnen sich als randständig. Worin liegt die Chance, nicht zur Peergroup zu gehören?

Wenn man es übersteht, macht dieses Nicht-dazu-Gehören auch freier, unangepasster. Meine Familie gehörte als Nazi-Gegner auch nach 1945 nicht dazu, war nach dem Krieg die soziale Leiter runtergepurzelt und blieb in dem Holzhäuschen am Waldrand hängen – aber mit weitem Blick über ganz Elberfeld.

Sie zählen noch zur Nachkriegsgeneration. Was fühlen Sie heute beim größten Krieg in Europa nach 1945?

Ich bin entsetzt! Denn ich weiß zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber vor allem durch die Erinnerungen meines Großvaters, der bei der Schlacht an der Somme war, wie grauenvoll der Krieg auch für die Soldaten ist. Und dass man jetzt wieder so ganz nebenher von einem „Stellungskrieg“ in der Ukraine redet – unfassbar.

Würden Sie Ihren viel diskutierten Offenen Brief zum Ukraine-Krieg noch einmal schreiben? Wie viele Unterschriften gibt es mittlerweile?

Mehr denn je! Denn wir sehen ja, wohin der Krieg führt! Tote auf allen Seiten, bei den Ukrainern wie bei den jungen russischen Soldaten. Vergewaltigte Frauen, verbrannte Erde. Jeden Tag mehr. Und irgendwann muss dieser Krieg sowieso durch Verhandlungen beendet werden. Wie jeder Krieg. Warum also nicht jetzt?! Die deutsche Bevölkerung ist in der Frage ja gespalten: Die Hälfte ist für noch mehr Waffen, die andere Hälfte für Waffenruhe und Verhandlungen. Meinen Offenen Brief haben auf change.org inzwischen knapp 500 000 Menschen unterzeichnet. Eine halbe Million! So etwas müsste die Politik doch ernst nehmen.

Frauen erfahren auch heute immer wieder Repressionen. Das zeigt nicht nur der Blick auf den Iran. Was würden Sie jüngeren Generationen gerne auf den Weg geben?

Die Sache der Frauen niemals anderen Anliegen unterordnen! Es gab von Anfang an, seit 1979, auch Iranerinnen, die gegen den Kopftuchzwang protestiert haben, diese Flagge der Islamisten. Schon wenige Wochen nach der Machtergreifung von Ayatollah Khomeini. Damals bin ich ja zusammen mit einigen Französinnen dem Hilferuf dieser Frauen nach Teheran gefolgt und habe geschrieben: „Diese Frauen haben ihr Leben für die Freiheit riskiert, sie werden nicht in Freiheit leben.“ So ist es leider gekommen. Und noch viel schlimmer. Dieser politische Islam, der den Glauben in Geiselhaft nimmt, hat einen Kreuzzug in die ganze Welt angetreten, bis ins Herz der westlichen Metropolen. Leider hat man sie bis heute im Namen einer falschen „Toleranz“ gewähren lassen.

Sie müssen im Kampf für Frauenrechte viel Häme ertragen. Was stärkt Sie, unbeirrt Ihre Meinung zu sagen?

Ich kann nicht anders. Das habe ich vermutlich von           Großmutter. Wenn ich überzeugt bin, im Recht zu sein oder gar anderen helfen zu müssen – dann tue ich das. Egal, was mich das kostet.

1984 haben sie Transfrauen als „Schwestern“ begrüßt, heute warnen Sie vor dem „trans Trend“ junger Frauen. Widerspricht sich das nicht?

Echte Transsexuelle, also Männer oder Frauen, die so unter ihrem Geschlechterkörper leiden, dass manche bis zur Selbstverstümmelung gehen, sind immer noch meine Schwestern. Und ich bin ungebrochen der Meinung, dass da geholfen werden und der Schritt zur gegengeschlechtlichen Identität ohne Demütigung möglich sein muss. Ich stehe allerdings nicht allein mit dem Verdacht, dass diese Zehntausende junger Mädchen, die neuerdings in der ganzen westlichen Welt die Trans-Praxen stürmen, andere Motive haben. Diese Mädchen leiden unter ihrer Geschlechterrolle. Aber deswegen muss man nicht ihre psychische und physische Gesundheit zerstören durch lebenslange Hormongaben und verstümmelte Brustamputationen oder gar Genitalverstümmelungen. Man kann ihnen einfach sagen: Du bist biologisch eine Frau, aber ansonsten ein freier Mensch. Du kannst auch ohne Hormone oder Operationen Fußball spielen oder dich in deine beste Freundin verlieben. Dieses Gesetzesprojekt der Regierung, das plant, dass junge Menschen ab 14 ohne Beratung einfach beim Amt ihr Geschlecht wechseln können – auch ohne Einverständnis der Eltern – muss unbedingt verhindert werden! Es ist ein Verbrechen an diesen pubertären Jugendlichen, die morgen vielleicht schon ganz anders denken.

Im Kachelmann-Prozess haben Sie für BILD berichtet. Warum?

Ganz einfach, weil Bild das einzige Blatt war, das mir – über EMMA hinaus – angeboten hat zu berichten. Ich habe ja nur reagiert. Und zwar nicht auf Kachelmann, sondern auf die sogenannten Leitmedien, die schon Monate vor Beginn des Prozesses geschrieben hatten: Kachelmann ist unschuldig! Die Frau lügt! Ich habe symbolisch der Frau eine Stimme gegeben, habe geschrieben: Auch für das mutmaßliche Opfer gilt der Unschuldsverdacht – so wie für den mutmaßlichen Täter. Nach acht Monaten Prozess hat der Richter Kachelmann freigesprochen, aber nicht rehabilitiert. Er hat gesagt, vor allem mit Blick auf die Medien: Wir haben die Wahrheit nicht finden können. Es kann sein, dass der Angeklagte die Wahrheit gesagt hat, es kann aber auch sein, dass er lügt. Es kann sein, dass die Zeugin lügt, aber auch, dass sie die Wahrheit gesagt hat. – Den Rest der Geschichte kennen wir. Der Fall Kachelmann würde heute, nach MeToo, vermutlich auch in Deutschland ganz anders diskutiert.

Köln wurde Silvester 2015 zur Chiffre eines Kulturschocks. Sie haben wenige Monate danach ein Buch   dazu herausgegeben. Wie ging die Stadt   damit um, was hat sich seither geändert?

Die Stadt hat zunächst alles verdrängt und verleugnet. Auf Kosten der Opfer. Das wurde erst besser, als der neue Polizeichef, Jürgen Mathies, kam. Dass Köln aus dieser entsetzlichen Nacht, in der die Frauen mitten in Europa aus dem öffentlichen Raum geprügelt wurden, gelernt hat, können wir nur hoffen.


Alice Schwarzer als Autorin zahlreicher Bücher

In ihrem Buch „Der kleine Unterschied“ von 1975 ließ Alice Schwarzer erstmals Frauen in der Bundesrepublik von ihrem Alltag und ihrer sexuellen Unterdrückung erzählen. Das Buch löste eine große Debatte aus. Es folgten weitere Bestseller. Zum 80. Geburtstags erscheint nun ihre Biografie als Doppelband.

Alice Schwarzer: „Mein Leben Lebenslauf und Lebenswerk“, Kiepenheuer & Witsch, 736 Seiten, 28 Euro.

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