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Großartige WiederentdeckungOper Bonn feiert das Comeback von Ronnefeldts „Die Ameise“

4 min
„Die Ameise“ an der Oper Bonn mit Nicole Wacker und Dietrich Henschel

„Die Ameise“ an der Oper Bonn mit Nicole Wacker und Dietrich Henschel.

Außergewöhnliche Wiederentdeckung: Die Oper Bonn zeigt Peter Ronnefeldts „Die Ameise“ 65 Jahre nach der Uraufführung.

Der erste Satz, der in dieser ungewöhnlichen Oper fällt, lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: „Ich bin kein Mörder.“ Doch schon im nächsten Atemzug folgt die Einschränkung: „Es ist etwas ganz anderes.“ Damit ist die juristische Lage sofort vieldeutig, und aus genau dieser Ambivalenz heraus setzt Peter Ronnefelds Oper „Die Ameise“ ein. Uraufgeführt 1961 in Düsseldorf, just in der Zeit, als der junge Ronnefeld in Bonn als Chefdirigent der Oper wirkte.

In der Neuinszenierung der seit mehr als 50 Jahren nicht mehr szenisch gespielten Oper bringt Kateryna Sokolova ein komplexes Räderwerk in Gang, an dessen Ende sich die Oper als das erweist, was sie ist: eine kluge und hochaktuelle Wiederentdeckung.

Teil der Reihe „Fokus 33“

Entstanden im Rahmen der verdienstvollen Reihe „Fokus 33“, erzählt die Inszenierung die kunstvoll verschlungene Handlung mit bemerkenswerter Klarheit. Sokolova findet präzise Bilder für den Ton der Musik, übersetzt Klang in Geste und Rhythmus in Bewegung. Was grotesk überzeichnet scheint, kippt immer wieder ins Berührende – und gewinnt gerade daraus seine eigentümliche Wahrheit.

Im Zentrum steht Salvatore, ein Gesangslehrer, der wegen des Mordes an seiner Schülerin Formica vor Gericht steht. Seine Unschuldsbeteuerung treibt er so weit, dass er sogar die Trauer der Mutter kleinredet: „Nicht sie, ich habe Formica verloren. Sie war mein Geschöpf!“

Hervorragende Hauptdarsteller

In dieser Künstlerhybris liegt der Abgrund der Figur. Dietrich Henschel gestaltet diesen Salvatore mit imponierender Eindringlichkeit: sensibel, verletzlich, obsessiv, nie eindeutig. Sein Bariton verbindet Wärme mit Brüchigkeit und macht Selbstrechtfertigung ebenso hörbar wie das Scheitern. Man glaubt ihm jede Phrase – gerade dort, wo man ihm besser misstrauen sollte.

Formica (lateinisch für „Ameise“) erhält durch Nicole Wacker eine ebenso virtuose wie tiefgründige Verkörperung. Ihre Sopranstimme besitzt etwas Zartes, fast Zerbrechliches, zugleich aber große Intensität und Leuchtkraft. Dass diese Figur nie real erscheint, sondern stets Erinnerung, Projektion oder Wiederkehr bleibt, macht sie zum emotionalen Zentrum des Abends.

Erinnerungen an Kafka

Die Nähe zu Kafka ist in Ronnefelds Oper unübersehbar. Man denkt an den Roman „Der Prozess“ mit seiner diffusen Schuld und an die Erzählung „Die Verwandlung“: Doch während Gregor Samsa als Ungeziefer erwacht, erscheint Ronnefelds Ameise als Wiedergeburt der getöteten Formica – nicht als Strafe, sondern als bizarre Hoffnung, dass in dem Insekt auch die Stimme seiner Schülerin wiedergeboren wird. Kafkaesk ist hier nicht nur das Absurde, sondern das zutiefst Menschliche im Grotesken.

Nikolaus Weberns Bühnenbild verstärkt diesen Eindruck nachhaltig. Zuschauertribünen links und rechts lassen die Verhandlung wie in einem alten Hollywoodfilm als Tribunal erscheinen, das sich direkt an das Publikum richtet.

Enormes Farbspektrum der Musik

Mit wenigen szenischen Veränderungen wird derselbe Raum zur Projektionsfläche poetischer Schattenspiele, die nicht zuletzt auch durch die beiden Mimen Marina Rosenstein und Julius Westheide zum Leben erweckt werden. Oder zum Gefängnis oder zu einem Jugendstil-Musikzimmer mit Kamin, Säule und Flügel. Besonders eindringlich ist das Bild der auf diesem Flügel aufgebahrten Formica – eine Assoziation an Frankensteins Geschöpf und ein unmissverständliches Echo von Salvatores Satz: „Sie war mein Geschöpf.“

Ronnefelds Musik entfaltet ein enormes Farbspektrum: fragile Klänge neben wilden Rhythmen, Sprechgesang neben solistischen Streicherpassagen, dazu markante Instrumentalsoli von der Tuba bis zur Sologeige sowie raffiniert eingesetzte Raumwirkungen. Daniel Johannes Mayr hält dieses vielschichtige Klangpanorama mit sicherer Hand zusammen, das Beethoven Orchester Bonn spielt die reiche, undogmatische Partitur präzise und lustvoll aus.

Moralisches Echo

Auch Humor hat seinen Platz, etwa in der grotesken Szene zweier Sträflinge, die von ihren Liebesabenteuern berichten. Maßgeblichen Anteil am Gelingen des Abends haben zudem die weiteren Solisten: Susanne Blattert zeichnet die Mutter Formicas in unsentimentaler Derbheit. Ralf Rachbauer überzeugt als Diener Salvatores, Ján Rusko verleiht dem Gefängniswärter Melter schroffe Autorität, Mark Morouse gibt dem Professor Mezzacroce markante Präsenz. In den vielfach gebrochenen Nebenrollen zeigen Roland Silbernagl und Svenja Wasser große Wandlungsfähigkeit.

Der Chor, von André Kellinghaus sorgfältig und präzise einstudiert, fungiert als moralisches Echo der Gesellschaft und ist in seinen tollen Kostümen (Constanza Meza-Lopehandía) zugleich integraler Teil der minutiös durchchoreografierten szenischen Bewegung. „Wir besuchen regelmäßig Prozesse! Wir können uns ein Urteil erlauben!“, heißt es zu Beginn. Am Ende, in der Music-Hall, die Salvatore mit der Ameise, die er dort zum Singen bringen will, im Gepäck betritt, wird daraus die Variation: „Wir besuchen regelmäßig Theater!“ Unweigerlich stellt sich die Frage, ob der ganze Prozess nicht selbst Theater war.

Peter Ronnefeld starb 1965 im Alter von nur 30 Jahren. Diese Bonner Ameise ist daher mehr als eine Wiederentdeckung: Sie ist ein überzeugendes Plädoyer für einen Komponisten, dessen aufblühendes Talent eine tödliche Krebserkrankung zunichte machte. Anders als bei der Uraufführung 1961 in Düsseldorf fand ihre Bonner Wiederentdeckung großen ungeteilten Beifall.

140 Minuten, wieder am 27. 12. und am 10., 15. und 18. 1 sowie 1. und 6.2.2026