Ab August 2026 haben Erstklässler einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung - doch NRW hat möglicherweise zu wenig OGS-Plätze. Experten und Opposition warnen vor den Folgen.
VerteilungskampfEltern in NRW droht die OGS-Kündigung

Die Plätze im Ganztagsangebot der Schulen in NRW sind begehrt.
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In weniger als einem Jahr beginnt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder in den ersten Klassen. Die FDP im Landtag, Eltern und Wohlfahrtsverbände haben ernste Zweifel, ob es NRW gelingt, bis dahin genügend Plätze im Offenen Ganztag (OGS) zur Verfügung zu stellen. Es verdichten sich die Anzeichen dafür, dass in vielen Städten die Betreuungs-Verträge für Eltern von Kindern der Klassen zwei bis vier gekündigt werden könnten, um die Erstklässler zu versorgen.
„Der konkrete Platzausbau liegt in kommunaler Verantwortung“, schreibt NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) in ihrer Antwort auf eine Anfrage der FDP, die dieser Redaktion vorab vorliegt. Die Landesregierung rechnet damit, dass etwa 80 Prozent der Kinder über ihre Eltern den Rechtsanspruch auf Betreuung in Anspruch nehmen werden.
FDP-Landtagsfraktionsvize Franziska Müller-Rech wirft der schwarz-grünen Landesregierung vor, sie sei „auf dem Blindflug ins Ganztags-Chaos“. Die Frage nach dem zusätzlichen Bedarf werde mit „über den Daumen gepeilten Prozentsätzen“ beantwortet. Müller-Rech warnt: „Kindern ab der zweiten Klasse könnte ab dem nächsten Schuljahr sogar der OGS-Platz gestrichen werden, um den Rechtsanspruch für Erstklässler zu erfüllen.“ Das würde massiv die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beeinträchtigen.
Vollständige Umsetzung des Anspruchs erst 2029
Beobachter halten dieses Kündigungs-Szenario für durchaus realistisch. „Möglicherweise kann zum Start des Rechtsanspruches nicht allen Kindern in den 1. Klassen ein OGS-Platz angeboten werden. Weil der Rechtsanspruch ab August 2026 zunächst für die 1. Klasse gilt, werden die Kommunen, die dann noch nicht genügend Plätze haben, darüber nachdenken, zunächst den Kindern ein Angebot zu machen, für die der Rechtsanspruch gilt, denn diese Eltern könnten den Rechtsanspruch einklagen“, erklärt Marion Gebauer, Expertin für die Offene Ganztagsschule beim Wohlfahrtsverband Der Paritätische NRW.
Für die Kinder in den zweiten, dritten und vierten Klassen gelte der Rechtsanspruch im kommenden Jahr noch nicht. Die vollständige Umsetzung des Anspruchs werde erst 2029 erreicht. „Das könnte im kommenden Jahr dazu führen, dass mancherorts Eltern von Kindern aus den zweiten, dritten und vierten Klassen keinen OGS-Platz bekommen. Vor allem, wenn diese Eltern nur einen Jahresvertrag haben“, so Gebauer.
Der Vorsitzende der Landeselternkonferenz (LEK), Hinrich Pich, teilt diese Befürchtungen. „Viele Zweit- bis Viertklässler könnten 2026 ihre OGS-Plätze verlieren. In vielen Kommunen, die den Ausbau nicht rechtzeitig schaffen, wird das so gehandhabt werden, um Klagen auf Schadensersatz zu vermeiden.“
Kommunen auf sehr unterschiedlichem Stand
Der Ausbaustand sei in NRW sehr unterschiedlich. Manche Kommunen hätten noch keine 50 Prozent erreicht, andere heute schon die 80 Prozent erreicht, die das Land als Ziel formuliert, so Pich. Der LEK-Vorsitzende wirft Schwarz-Grün vor, die die Kommunen beim OGS-Ausbau im Regen stehen zu lassen. Sie unterstütze Städte nicht genügend bei der Einrichtung zusätzlicher Betreuungs-Plätze.
NRW-Familienministerin Paul spricht in ihrer Antwort hingegen von einen „dynamischen Aufwuchs“ an OGS-Plätzen (siehe Info-Kasten). Allein im laufenden Jahr stelle NRW mehr als 884 Millionen Euro für die OGS bereit. Im Vergleich zum Jahr 2024 sei das ein Plus von rund 104,6 Millionen Euro.
Marion Gebauer vom Paritätischen ist an dieser Stelle nicht so zuversichtlich und argumentiert wie Hinrich Pich: „Der Ausbaustand in den Kommunen ist sehr unterschiedlich in NRW. Daher ist auch der Bedarf an OGS-Plätzen unterschiedlich gedeckt.“ Ärmere Kommunen hätten tendenziell mehr Probleme beim Ausbau von OGS-Plätzen als reichere.
Christian Schuchardt, Geschäftsführer des Städtetages NRW, hält ein „flächendeckendes schulisches Ganztagsangebot zum Start des Rechtsanspruchs für möglich, spricht aber von einer „großen Herausforderung“. Die Städte hätten bereits einen guten Bestand an Ganztagsplätzen aufgebaut. Noch sei das Angebot aber nicht überall bedarfsdeckend, sagte er dieser Redaktion. In vielen Städten stellten sich die Verwaltungen sogar darauf ein, dass 100 Prozent der Erstklässlerinnen und Erstklässler einen Platz in Anspruch nehmen würden. Wenn es nicht so kommen sollte, hätten diese Städte sogar einen gewissen Puffer.
OGS in NRW: Land bei Finanzierung in der Pflicht
Der Städtetag entlässt aber die Landesregierung nicht aus der Verantwortung: „Der Ganztag in NRW sei schon heute unterfinanziert und die Mittel vom Land passten sich nicht an die Kostensteigerungen an. „Hier brauchen wir, unabhängig vom Rechtsanspruch, endlich dringend eine auskömmliche Finanzierung der Betriebskosten durch das Land“, so Schuchardt.
Die Landesregierung sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, kein „OGS-Ausführungsgesetz“ auf den Weg zu bringen, um auf die steigende Nachfrage nach Betreuung zu reagieren, sondern diese wichtige Frage nur über einen Erlass zu regeln.
„Das im Koalitionsvertrag von CDU und Grünen versprochene Ausführungsgesetz mit Qualitätsstandards, klaren Zuständigkeiten und verlässlicher Finanzierung fehlt weiter“, sagt Franziska Müller-Rech (FDP). Kommunen, Schulen und Träger blieben daher mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs allein.