Atomkraftwerk SaporischschjaDroht eine nukleare Katastrophe?

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Eine Grafik des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja.

Eine Grafik des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja.

Kiew/Moskau – Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage haben sich Moskau und Kiew gegenseitig den Beschuss des südukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja vorgeworfen. Bereits kurz nach ihrem Beginn des Überfalls auf die Ukraine griffen russische Truppen das Kraftwerk an – durch Beschuss geriet ein Nebengebäude in Brand – und besetzten es.

Nach wie vor sind dort Mitarbeiter des ukrainischen Betreibers Enerhoatom tätig. Mit den neuen Angriffen wachsen nun die Sorgen vor einem atomaren Zwischenfall in Europa. Wie real ist die Gefahr?

Droht ein zweites Tschernobyl?

Vor einem „Tschernobyl-Effekt“ als Folge einer Reaktorhavarie in Saporischschja hat Wolfgang Renneberg, langjähriger Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium, schon anlässlich des russischen Angriffs kurz nach Kriegsbeginn gewarnt.

Was für ein AKW steht in Saporischschja?

Das Kraftwerk Saporischschja, benannt nach dem gleichnamigen ukrainischen Bezirk, steht nicht in der namensgebenden Bezirkshauptstadt, sondern gut 120 Kilometer Landstraße davon entfernt bei Enerhodar am Kachowkaer Dnipro-Stausee. Es handelt sich um Europas größtes Atomkraftwerk mit knapp 6000 Megawatt Leistung verteilt auf sechs Reaktorblöcke (zum Vergleich: der Kraftwerksblock Isar 2 in Bayern, um dessen Weiterbetrieb in Deutschland derzeit intensiv gestritten wird, leistet 1485 Megawatt). (rn)

Technisch gibt es allerdings einen großen Unterschied zum Unglückskraftwerk Tschernobyl: Dort wurden Siedewasserreaktoren der sowjetischen Bauart RBMK genutzt. Die aus der Kernspaltung entstehende Wärmeenergie bringt Wasser zum Sieden, der Dampf treibt Turbinen an. Fatal: Wenn sich im Kühlwasser Dampfblasen bilden, steigt bei der sowjetischen Bauart anders als bei westlichen Reaktoren das Tempo der nuklearen Kettenreaktion.

Mehr Druckwasserreaktoren im Kraftwerk

Das passierte in Tschernobyl 1986 und führte zur Explosion. Zudem werden RBMK-Reaktionen mit Graphitstangen gesteuert (moderiert). Die gerieten damals auch noch in Brand.

Im wesentlich neueren Kraftwerk Saporischschja (Baujahr 1985) sind dagegen WWER-Druckwasserreaktoren verbaut. Konstruktiv ähneln sie westlichen Modellen: Wasser bewegt sich in einem geschlossenen Primärkreislauf und erhitzt über einen Wärmetauscher einen nicht radioaktiv belasteten Sekundärkreislauf, der die Turbinen antreibt.

Schmelzen das Reaktorkerns möglich

Bilden sich durch Überhitzung Dampfblasen, wird die Kettenreaktion langsamer. Bei starkem Wasserverlust durch ein großes Leck bricht sie sogar zusammen. Allerdings: Selbst nach einer kompletten Abschaltung muss der Reaktor gekühlt werden.

Passiert das nicht mehr, kann die „Nachwärme“ schlimmstenfalls zum Schmelzen des Reaktorkerns führen. In Fukushima – dort waren allerdings Siedewasserreaktoren westlicher Bauart (ohne Graphit) in Betrieb – wurde durch die enorme Hitze in zwei Blöcken Wasserstoff frei, der schließlich explodierte.

Brand und Kettenreaktion wie in Tschernobyl wenig denkbar

Ein Graphitbrand im Reaktorkern und eine sich selbst beschleunigende Kettenreaktion wie in Tschernobyl sind aber bei solchen Kraftwerken ebenso wenig denkbar wie in Saporischschja.

Auch in Fukushima gelangte radioaktives Material in die Atmosphäre – das meinte Renneberg mit dem „Tschernobyl-Effekt“. Allerdings war die in Tschernobyl freigesetzte Strahlungsmenge zehnmal so groß.

Wie ist die Lage im Kraftwerk?

Vergangene Woche waren drei der sechs Reaktoren in Saporischschja in Betrieb. Einer davon wurde nach dem Angriff vom Freitag abgeschaltet. Da zwei Reaktoren noch laufen, erzeugt das Kraftwerk selbst den für die Kühlung nötigen Strom. Bei einem Ausfall aller Reaktoren müsste auf Dauer Strom von außen kommen.

Deshalb ist die Zerstörung von Stromleitungen, die teilweise erfolgt sein soll, gefährlich. Es gibt zwar Notstromaggregate, aber deren Dieselvorräte reichen nur für wenige (angeblich neun) Tage. Die Detonation von Sprengsätzen, die die Russen angeblich in einem Betriebsgebäude lagern, könnte die Kühlung beschädigen.

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Die Reaktoren selbst sind wie in westlichen Kraftwerken durch Sicherheitsbehälter geschützt. Es ist aber unklar, welchem Ausmaß an Beschuss sie standhalten würden. (rn/ dpa)

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