- Helge Braun ist seit März 2018 Chef im Bundeskanzleramt
- Im Interview mit Jan Drebes und Gregor Mayntz äußert er sich zu den aktuellen Corona-Maßnahmen und dem Ernst der Lage.
Herr Braun, stört Sie etwas an den jüngsten Beschlüssen der Ministerpräsidenten zu Corona?Braun Zunächst einmal bin ich froh, dass wir jetzt weiterreichende Beschlüsse haben. Es ist klar geworden: Man muss frühzeitig damit anfangen, bei steigenden Zahlen zu handeln. Und man muss bereit sein, noch stärker einzusteigen, wenn es nicht reicht. Mein Eindruck ist jedoch, dass noch mehr zu tun ist, um eine Umkehr der Infektions-Dynamik zu bewirken. Meine Hoffnung ist, dass die Bevölkerung weiß, wie ernst es jetzt ist. Wir müssen weg von „Was darf ich?“ hin zum „Was hilft jetzt?“. Wir müssen zur zweiten Welle von Corona auch eine „zweite Welle der Vorsicht“ bekommen.
Wenn es nicht reicht, was fehlt denn noch?
Braun Der Experte Michael Meyer-Hermann hat uns eindringlich vor Augen geführt, dass wir eine Halbierung aller Kontakte in der Gesellschaft erreichen müssen, um eine stabile Seitwärtsentwicklung bei den Corona-Zahlen zu bekommen. Wenn wir Schule und Wirtschaft aufrechterhalten wollen, können wir noch einkaufen gehen, aber unser Freizeitverhalten müssen wir auf ein absolutes Minimum reduzieren. Das vorsichtige Herantasten an Sperrstunden ab 23 Uhr bei 50 Infektionsfällen je 100.000 Einwohnern in sieben Tagen halte ich noch nicht für ausreichend.
Die Andeutung von Berlins Regierendem Bürgermeister, es könne auch 20 Uhr als Sperrstunde kommen, ist eine realistische Option?
Braun Ja, damit wir nicht irgendwann zu noch härteren Maßnahmen greifen müssen. Damit wäre zwar das Abendessen im Restaurant noch möglich. Aber die klassische Geselligkeit in der Gastronomie darf es aus meiner Sicht in den nächsten Wochen nicht geben.
Sie rechnen also damit, dass die Werte weiter stark steigen?
Braun Ich rechne damit, dass wir die Zahlen dort umkehren können, wo entschieden gehandelt wird. Wir sind einem steigenden Infektionsgeschehen auch im Winter nicht hoffnungslos ausgeliefert. Wir können das verhindern und dann nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich und sozial durch die Krise kommen. Das nutzt uns allen. Wichtig ist, dass wir uns bewusstwerden: Wir haben nicht mehr nur ganz wenige Hotspots. Die Zahlen steigen flächendeckend.
Was folgt daraus?
Braun Dass es nicht klug ist, überall auf den Wert von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner und Woche zu warten, bevor man gegensteuert. Je früher die Maßnahmen der Länder umgesetzt werden und greifen, desto einfacher und schneller bekommen wir die Infektionszahlen wieder in den Griff.
NRW setzt bei privaten Feiern weiter auf den Wert von 50 – hat das Land den Ernst der Lage noch nicht verstanden?
Braun Niemand hat ein Interesse, den Menschen in ihren privaten Lebensbereich hineinzuregieren. Jede Maßnahme der Beschränkung des privaten Lebensbereichs muss verhältnismäßig sein. Aber es gehört auch dazu, klar zu sagen, dass das enge Zusammentreffen von drei, vier oder noch mehr verschiedenen Hausständen ein Infektionsrisiko ist. Momentan ist der private Bereich nun einmal der Treiber des Infektionsgeschehens. Also müssen wir da ansetzen.
Wie gehen Sie mit der selbstgesetzten Frist um, nach zehn Tagen zu schauen, wie die neuen Maßnahmen greifen? Bei der Konferenz waren es 6600 Infektionen. Steuern Sie nach, wenn es 8000 sind?
Braun Die Zahlen der letzten Tage zeigen, wie dynamisch die Entwicklung ist. Deshalb bleiben wir in engstem Kontakt mit den Ländern und müssen möglicherweise auch sehr schnell wieder reagieren. Es ist auch klar, dass die Beschlüsse erst in der nächsten Woche ihre Wirkung entfalten. Und ob sie wirken, sehen wir erst 10 Tage nach ihrem Beginn. Das ist dann ein guter Zeitpunkt, um eventuell nachzusteuern. Es wird Ende des Monats also voraussichtlich wieder ein Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten geben müssen. Die Chefs der Staatskanzleien und ich halten über wöchentliche Schaltkonferenzen einen ständigen Gesprächsfaden.
War das Beherbergungsverbot ein Fehler?
Braun Ich habe von Anfang an gesagt, dass das eine problembehaftete Notfallmaßnahme ist. Die öffentliche Diskussion hat gezeigt, dass es logische Brüche gibt. Etwa bei der Aussagekraft von Tests, die schon Tage vor dem Urlaub genommen wurden. Kritik am Beherbergungsverbot ist berechtigt. Aber wir stehen vor dem Problem, dass Reisen für die Verbreitung des Virus ein zentrales Element ist. Durch Reisen kam das Virus von China nach Europa, von Ischgl nach Deutschland, und nach den Sommerferien waren 50 Prozent aller Infizierten Reiserückkehrer. Also müssen wir auch beim Reisen ansetzen.
RKI-Präsident Lothar Wieler hat die Abriegelung von Risikogebieten nicht mehr ausgeschlossen. Schließen Sie sich ihm an?
Braun Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten haben schon vor Monaten festgestellt, dass es als weitestgehende Maßnahme auch Beschränkungen der Mobilität in die besonders betroffenen Gebiete hinein und aus ihnen heraus geben kann.
Wer auf die immensen Einschränkungen in Frankreich blickt, schaut der auch auf das was bald auf Deutschland zukommt?
Braun In der Tat zeigen sich die Verläufe in Frankreich, Spanien und den Niederlanden zeitversetzt auch bei uns. Wir müssen verhindern, dass wir unserem Infektionsgeschehen hinterherlaufen. Wir hatten lange Zeit viel niedrigere Zahlen, weil wir in unserem flächendeckend vorhandenen öffentlichen Gesundheitssystem die Kontaktnachverfolgung besser und vollständiger durchführen konnten. Dahin müssen wir schnell zurückkehren. Wenn wir abwarten, wird es erst zu einer Überlastung des öffentlichen Gesundheitsdienstes kommen. Im zweiten Schritt kommt es dann zu einer Überlastung der Testkapazitäten und aus beidem resultiert eine Überlastung unseres Gesundheitswesens. Die vollständige Kontaktnachverfolgung ist der zentrale Baustein, um die Infektionskontrolle zu behalten. Ist diese nicht mehr möglich, bleiben nur Beschränkungen zunehmender Intensität übrig.
Zum Maßnahmenpaket gehört die massive Unterstützung durch den Bund für die Gesundheitsämter. Um welche Dimensionen geht es da? Werden da Tausende oder Zehntausende nötig sein?
Braun Ich hoffe sehr, dass die Hilfe abgerufen wird. Wir schauen auch über die Bundeswehr hinaus, ob wir weitere Personalreserven in der Bundesregierung und nachgeordneten Behörden mobilisieren können. Ich habe auch die Hoffnung, für die Kontaktnachverfolgung eine größere Zahl von Studierenden zu gewinnen. Dazu sind wir mit der Hochschulrektorenkonferenz im Gespräch, damit die Freiwilligen keine Nachteile im Studium haben. Der Bedarf ist immens. Um eine Kontaktkette über einen Tag nachzuverfolgen, braucht man fünf Mitarbeiter.
Wenn die Infizierten-Zahl jetzt um 6000 steigt, sind also 30.000 zusätzliche Kräfte nötig?
Braun Der Bedarf ist enorm, es wird eine fünfstellige Zahl von Helfern benötigt. Dieser Kraftakt ist so gewaltig, dass sich auch die Idee erübrigt, auf einem höheren Niveau von etwa 10.000 Infizierten pro Tag zu verharren und die Kontakte trotzdem nachverfolgen zu können. Das ist nicht realistisch. Die Zahlen müssen runter!
Nach unserem Eindruck leistet die Corona-Warn-App derzeit nicht das, was Sie sich von ihr erhofft hatten. Stimmt das?
Braun Technisch funktioniert die App hervorragend. Ich hoffe, dass jetzt noch mehr Menschen sie herunterladen werden. Denn die Warnungen nehmen derzeit drastisch zu, wir sehen einen steilen Anstieg.
Können Sie den beziffern?
Braun Stand Dienstag den 13.10.2020 haben insgesamt 10.860 positiv getestete Personen eine Warnung über die App an ihre anonymen Kontakte aussenden können. Wie viele Personen dann tatsächlich gewarnt wurden, wissen wir natürlich nicht, weil diese Daten aufgrund des dezentralen Ansatzes der App nicht vorhanden sind.
Die Gesundheitsämter kritisieren jedoch, dass die App keinen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung des Virus leistet.
Braun Die Gesundheitsämter sind unsere schärfsten Kritiker und das bereitet mir Sorge. Diese App ist vollständig anonym. Sie soll das Gesundheitsamt auch künftig nicht bei der personalisierten Kontaktermittlung unterstützen, aber sie stellt ein zusätzliches, unabhängiges und sehr schnelles Instrument dar. 90 Prozent der Labore sind an die App angeschlossen und können den Betroffenen das Corona-Test-Ergebnis sehr schnell mitteilen. Wenn die Menschen dann auch noch unmittelbar die Warnfunktion nutzen, kann die App einen wichtigen Beitrag in dieser zweiten Welle leisten. .
Haben Sie Erkenntnisse, ob sich Menschen bei Zugreisen im Fernverkehr häufiger anstecken?
Braun Gesicherte Erkenntnisse dazu gibt es nicht. Wir wissen aber, dass die Maskenpflicht in Zügen zu einer deutlich höheren Sicherheit beiträgt. Gleichzeitig gilt, dass das Infektionsrisiko steigt, wenn Menschen länger als 30 Minuten in einem Raum verbringen oder wenn der Mindestabstand von 1,50 Meter nicht eingehalten werden kann.
Braucht es in dieser angespannten Lage ein anderes Konzept der Bahn, um das Risiko zu verringern?
Braun Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Konzepte im Nah- und Fernverkehr ausreichend. Steigt die Zahl der Neuinfektionen weiter so an wie in den vergangenen Tagen, kann es sein, dass wir auch die Regeln im öffentlichen Personenverkehr überprüfen müssen.
Sind Sie dafür, dass es in diesem Jahr Weihnachtsmärkte geben soll?
Braun Eine gute Situation zu Weihnachten, die alle Familienbesuche ermöglicht, ist unser klares Ziel. Deshalb müssen wir den aktuellen Trend der Infektionen schnell umkehren. Aber es ist sehr schwer, Vorhersagen zu machen. Wir wünschen uns ja alle, dass wir ein schöneres Weihnachtsfest haben werden als das Osterfest, bei dem fast gar nichts möglich war.
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In Deutschland sind mittlerweile fast 10.000 Menschen an oder mit Corona verstorben. Wird es einen Staatsakt zum Gedenken der Opfer geben?
Braun Ich spreche mich dafür aus, einen Staatsakt für die Opfer abzuhalten, wenn die Corona-Pandemie im Wesentlichen besiegt ist. Im Sommer war die Botschaft, dass Deutschland gut durch die Krise komme. Angehörige, die einen Menschen an das Virus verloren haben, müssen das als extrem zynisch wahrgenommen haben. Ihnen sage ich, dass die Opfer dieser Pandemie unter keinen Umständen vergessen werden. Ich finde, wir sollten zu gegebener Zeit mit einer Gedenkveranstaltung ein Zeichen für sie setzen.
Was macht das mit Ihnen als Hauptkoordinator der Corona-Politik, wenn die meiste Kritik auf die mangelnde Koordinierung zwischen Bund und Ländern abzielt?
Braun Diese Kritik geht oft mit Kritik an dem Föderalismus einher. Unser System der Länderzuständigkeiten hat sich aber als riesiger Vorteil erwiesen. Wir können aus Berlin nicht die richtigen Maßnahmen für jeden Virusausbruch in der Fläche vorgeben. Das Problem dabei ist, dass schnell Verwirrung entsteht, wenn unterschiedliche Regeln bei gleichem Infektionsgeschehen gelten. Das wollen wir vermeiden, um die extrem wichtige und immer noch vorhandene Akzeptanz in der Bevölkerung nicht zu verlieren.