Der frühere luxemburgische Außenminister Jean Asselborn beschäftigt sich auch im Ruhestand noch mit internationaler Politik und ist oft gehörter Experte. Im Gespräch erläutert er seine Einschätzung zu internationalen Themen.
Politik-Experte Jean Asselborn„Vom Chaos profitieren nur Extremisten“

Jean Asselborn im Interview mit der Rundschau.
Copyright: Meike Böschemeyer
Es ist fast auf den Tag genau zwei Jahre her, dass Sie nach 20 Jahren das Amt des Außenministers von Luxemburg abgegeben haben. Vermissen Sie die internationale Spitzenpolitik?
Nicht wirklich. Erneuerung und Abwechslung gehören zur Demokratie. Der Mensch ist kein Dauerbrenner, auch als Politiker nicht. Ich hatte Zeit, mich darauf einzustellen. Ich wüsste auch nicht, ob ich noch weitergemacht hätte, wenn wir als Sozialdemokraten damals die Wahlen gewonnen hätten. Aber ich bin ja immer noch viel unterwegs.
Auch in Deutschland?
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- Gaza-Krieg Was bedeutet die UN-Resolution für den Gaza-Friedensplan?
Ja, ich gehe hier vor allem gerne in Schulen, um mit jungen Menschen über Europa zu sprechen. Im Januar werde ich wieder für eine Gedenkveranstaltung für den früheren deutschen Bundesinnenminister Gerhart Baum sein. Ich gehe auch zu Politikern oder in Unternehmen, wenn man mich einlädt. Ich bin jetzt eine Art freischaffender Künstler.
Sie haben sich immer leidenschaftlich für Geflüchtete eingesetzt. Zum Ende Ihrer Amtszeit mussten sie in Luxemburg aber den Zuzug begrenzen auf Familien mit Kindern. Heute gibt es sogar ein Bettelverbot in Luxemburg-Stadt. All das hätten Sie wahrscheinlich nicht gerne politisch verantwortet?
Das war natürlich schmerzhaft. Aber was hätten wir machen sollen? Ich konnte das nicht den Organisationen überlassen, die die Geflüchteten betreuen. Die eigentlichen Katastrophen haben sich noch während meiner Amtszeit ereignet: Der völkerrechtswidrige Angriff Russland auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023. Noch immer müssen wir mit den Konsequenzen davon leben, auch in Bezug auf Geflüchtete. Dabei waren wir vorher auf einem guten Weg. 2015 hatten wir Luxemburger die Präsidentschaft der Europäischen Union. Damals kamen viele Menschen nach Griechenland und Italien. Damals wurde beschlossen, dass es eine an Quoten orientierte Verteilung dieser Menschen innerhalb Europas geben sollte.
Letztlich ist daraus aber nichts geworden?
Damals gab es noch eine qualifizierte Mehrheit dafür, dass alle europäischen Länder helfen sollen. Der Europäische Gerichtshof hatte das sogar bestätigt. Dann haben Staatchefs plötzlich „Nein“ gesagt und darauf verwiesen, die Aufnahme von Geflüchteten dürfe nur auf freiwilliger Basis geschehen. Das ist die politische Sünde, die begangen wurde, und es ist die Ursache dafür, warum wir bis heute keine europäische Migrationspolitik haben.
Eine erneute und verlässliche Einigung ist heute in weiter Ferne?
Es wird versucht, die Situation zu verbessern. Aber solange die Länder im Süden, wo die Menschen reinkommen, die nicht genau wissen, dass es von den Ländern im Zentrum und im Norden Europas ein Engagement in dieser Sache gibt, werden sie die Geflüchteten durchwinken. Ein Land wie Deutschland, das wirtschaftlich sehr stark ist, wird dann die Konsequenzen tragen müssen.
Wie kommt es, dass Sie als Vertreter eines so kleinen Landes wie Luxemburg einen derart großen internationalen Einfluss gewonnen haben?
Luxemburg hat niemals jemandem den Krieg erklärt, und wir hatten auch keine Kolonien. Deshalb werden wir als kleines Land angesehen, das keinem wehtut. Weil ich die deutsche Sprache beherrsche, konnte ich mich auch in Deutschland mit vielen Spitzenpolitikern austauschen – und die europäische Position manchmal etwas unabhängiger und klarer vortragen, wenn es beispielsweise um Israel und Palästina ging. Deutschland ist da oft zurückhaltend, weil die schwierige Geschichte auf dem Land und damit auch auf den Politikern lastet.
Sie es haben damals sogar geschafft, dass Luxemburg zeitweise einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hatte?
Wir haben in dieser Zeit ein Prozent vom Bruttosozialprodukt für die Entwicklungshilfe ausgegeben. Das hat uns sehr geholfen. Außenpolitik ist wie Innen- oder Kommunalpolitik: Man erreicht nur etwas, wenn man mit Menschen den Kontakt sucht und sie überzeugen kann. Ein Gespräch ist immer wichtiger als ein Papier.
Im Gespräch mit dem früheren deutschen Außenminister Joschka Fischer von den Grünen haben Sie mal beklagt, dass die Vereinten Nationen (UNO) keine so große Rolle mehr spielen?
Als ich als Außenminister angefangen habe, war die UNO tatsächlich noch eine Institution mit Macht. Heute steht es um die UNO ganz schlecht. Für uns Luxemburger waren es auch die Amerikaner, die uns im Zweiten Weltkrieg von den Nazis befreit haben. Heute stimmen die Amerikaner bei der UNO mit Nordkorea, Iran und Russland gegen die Europäische Union. Das tut schon weh. Und der Weltsicherheitsrat bringt es überhaupt nicht mehr fertig, Kriege zu beenden. Dass sogar Russland als ständiges Mitglied selbst einen Krieg gegen die Ukraine führt und Aggressor ist, war für mich unvorstellbar. Sie haben schließlich mit Chinesen, Amerikanern und Europäern die Charta der Vereinten Nationen entworfen.
Immerhin hat der UN-Sicherheitsrat aktuell das Friedensabkommen für Gaza abgesichert?
Das finde ich im Prinzip wirklich gut. Aber es ist erst einmal nur ein Votum. Es ist wichtig, die Hamas zu entwaffnen. Aber das Kernproblem der Auseinandersetzung kann nur gelöst werden, wenn Israel und Palästina friedlich nebeneinander existieren. Eine solche Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern, ist aber offenbar die politische Lebensaufgabe des israelischen Regierungschefs Netanjahu. Zu Palästina gehören Gaza, Ostjerusalem und die West Bank. Die Palästinenser müssen die Möglichkeit haben, ihr Land zu regieren. Und Israel muss in Sicherheit leben können. Ich bin überzeugt, das geht nur, wenn die Palästinenser ihren eigenen Staat haben. Die UNO sollte dabei aktiv helfen. Sie ist schließlich das einzige Instrument, das wir auf der Welt haben, um solche Herausforderungen zu meistern.
Sie hatten früher einen engen Draht zu ihrem russischen Amtskollegen Larow, er kam sogar zu Ihrem 60. Geburtstag in Ihren Heimatort. Sind Sie heute enttäuscht von ihm?
Ja, sein heutiges Verhalten ist für mich eine herbe persönliche Enttäuschung. Er wurde im März 2024 Außenminister, ich vier Monate später. Wir haben uns sehr oft gesehen. Ich hatte ihn immer gesehen als jemand, der wusste, was in der Charta der Vereinten Nationen stand. Lawrow hat mir einmal zu Nordkorea gesagt, die müssen doch einsehen, dass sie nicht weiter Atomversuche machen können. 2015 hat Russland mit dafür gesorgt, dass der Iran nicht die Atombombe bekommen sollte. Inzwischen hat sich das schrecklich in die falsche Richtung gedreht. Aber in der Außenpolitik gibt es keine Emotionen.
Das sagen Sie als jemand, der sich im Amt zuweilen eher undiplomatisch und emotional zu internationalen Themen geäußert hat?
Russland besteht auch morgen noch. Wenn Russland aufhören würde, diesen Krieg zu führen und die Menschen in der Ukraine zu bombardieren, wenn es einen Waffenstillstand gäbe, dann müsste man natürlich wieder mit Russland reden!
Im Moment erscheint das schwer vorstellbar. Es gab wütende Reaktionen auf Äußerungen unseres Verteidigungsministers Boris Pistorius. Russland beteuerte, nie die NATO angreifen zu wollen. Wenige Tage zuvor hatte man der NATO einen Nichtangriffspakt angeboten.
Ich glaube, US-Präsident Donald Trump hat – das muss man ihm zugestehen – versucht, einen Deal mit Russland zu machen, wenn auch eher nicht aus humanitären Gründen. Er wollte Handel um Seltene Erden und Energie. Er hat das nicht fertiggebracht, jetzt haben wir Europäer die Hauptlast zu tragen. Diese Herausforderung müssen wir annehmen, nachdem sich die Amerikaner zurückgezogen haben. Die jüngste Entscheidung aus Frankreich weist da den richtigen Weg.
Sie meinen die geplante Lieferung von 100 Rafale-Kampfjets?
Ja, das ist wirklich nicht unwichtig, auch wenn es bisher nur eine Absichtserklärung ist. Ich finde es wirklich nicht falsch, dass man Russland zeigt, dass wir die Ukraine auch nach diesem Krieg nicht fallen lassen wollen - denn diese ersten Flugzeuge würden ja frühestens 2029 geliefert. Die werden diesen Krieg nicht entscheiden, aber es ist vielleicht auch ein Ansporn für Amerika, dass auch wir in Europa uns tatsächlich engagieren. Putin will siegen.
Wird ihm das aus Ihrer Sicht gelingen?
Es wird jedenfalls ein sehr, sehr bitterer Winter für die Ukrainer werden. Die Infrastruktur für Energie und Heizung ist stark in Leidenschaft gezogen worden. Ich bin davon überzeugt, dass wir als Europäer aber nicht auf Leute hören dürfen, die sagen, wenn es keine militärische Hilfe mehr gibt, ist der Krieg vorüber. Das ist eine große, große Unwahrheit. Wir sprechen oft vom Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die beiden dauerten etwas mehr als vier Jahre. Der russische Krieg gegen die Ukraine dauert jetzt auch bald solange.
Sehen Sie eine Kriegsgefahr auch für Europa und Deutschland, wie manche Experten warnen?
Ich verstehe, dass gewarnt wird, dass es zu einem Angriff Russlands kommen kann. Aber es wird ja nicht besser, wenn die Europäer der Ukraine den Rücken zuwenden. Wenn die Ukraine verliert, sollten wir uns bewusst sein, dass damit ein Überfall auf ein anderes Land legitimiert ist. Dann wird Putin weitermachen. Ich glaube aber nicht, dass er so schnell ein NATO-Land schnell angreift.
Aber es gibt schon Bedrohungen, durch militärische Verletzungen des Luftraums und durch russische Drohnen? Jüngst hat der EU-Sicherheitsbeauftragte davor gewarnt, dass wir gar nicht in der Lage seien, Kampfdrohnen abzuwehren.
Das ist anscheinend nicht so einfach. Die Franzosen haben immerhin Drohnen entwickelt, die andere Drohnen vernichten können. Andere Länder operieren mit Fangnetzen. Letztlich aber sind die Drohnen von Putin ein Test, ob die NATO noch zu Artikel Fünf ihres Vertrags steht.
Also der militärischen Beistandspflicht für Mitgliedsländer im Fall eines Angriffs?
Genau, und der US-Präsident Donald Trump hat sich bis heute nicht klar dazu bekannt. Das ist nicht gut. Ich war gut 20 Jahre dabei und habe verschiedene Krisen in der Europäischen Union miterlebt. Deshalb erhebe ich auch ohne Mandat meine Stimme und mahne, damit man nicht dieselben Fehler noch einmal macht. Europa muss hochgehalten werden. Parteien wie die AfD in oder Front National in Frankreich wollen die Demokratie schwächen, aber auch Europa. Da hat Deutschland im Moment eine unheimlich wichtige Aufgabe.
Welche genau?
Die Europäische Union wurde gegründet, damit die Deutschen und die Franzosen sich nicht mehr bekriegen. Und um Europas Wohlstand voranzubringen. Dieses politische Konstrukt muss die deutsche Regierung aktiv bewahren. Die Bundesregierung wird getragen von einer Koalition, die ihre Probleme hat. In Europa wird darauf gehofft, dass sie sich zusammenreißt. Die Deutschen sollten mal weniger zerknirscht sein und sollten mehr Optimismus zeigen. Von Chaos profitieren nur Extremisten. Wenn etwa in Frankreich der Front National an die Macht kommt, dann kann es vorbei sein mit einem Europa, das getragen wird von diesem Tandem Deutschland und Frankreich. Dann werden Grenzen geschlossen, Solidarität gibt es nicht mehr. Das Ziel der Extremisten ist ein Europa der Nationen. Sie wollen nicht mehr, dass wir eine Union sind. Sie wollen eine Addition von nationalen Interessen. Das aber ist nicht der Sinn von dem, was in den Römischen Verträgen steht.
Sie haben als einer der Ersten dem neu gewählten Kölner Oberbürgermeister Torsten Burmester gratuliert, haben ihn jetzt im Rathaus besucht. Woher kommt diese enge Verbindung?
Im Mai war ich in Köln bei der PhilCologne. Torsten hat mich irgendwie gekannt, ich hatte seinen Namen auch schonmal gehört. Dann hat er mich gebeten, bei meinem Besuch in Köln ein Video aufzunehmen, um für ihn Wahlkampf zu machen. Das habe ich gerne gemacht, und glücklicherweise wurde er auch gewählt. Am Wahlabend habe ich ihm direkt eine Nachricht per Whatsapp geschickt. Politisch haben wir als Sozialdemokraten ja quasi dieselbe Blutgruppe: Rot.
Jean Asselborn (76) war von 2004 bis 2023 Außenminister von Luxemburg. Am Dienstag wurde er von Oberbürgermeister Torsten Burmester (SPD) im Kölner Rathaus empfangen. Der Journalist Michael Merten hat ihn für das aktuell erschienene Buch „Jean Asselborn – Die Tour seines Lebens“ (Berg & Feierabend Verlag) auf einer Rennrad-Tour begleitet und biographisch über Privates und Politik gesprochen.
