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Russische OffensiveIn Charkiw droht die Wiederholung eines Traumas

Lesezeit 6 Minuten
Millionenstadt unter Beschuss: Ein Feuerwehrmann in einer Hausruine nach einem Raketenangriff auf Charkiw am vergangenen Freitag.

Millionenstadt unter Beschuss: Ein Feuerwehrmann in einer Hausruine nach einem Raketenangriff auf Charkiw am vergangenen Freitag.

Die russischen Truppen greifen in der Region Charkiw an. Welche Konsequenzen kann das für die Ukraine haben? Und wie ist die Lage an anderen Abschnitten der Front?

Die Lage bei Charkiw sei „äußerst schwierig“, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Fernsehansprache am Sonntagabend eingestanden. Dörfer, die bisher in einer „Grauzone“ gelegen hätten, seien Kampfgebiete geworden. Schon zuvor hatte Generalstabschef Olexander Syrskyj von einer verschärften Situation gesprochen, im Lagebericht vom Montag schreibt sein Generalstab über taktische Erfolge der russischen Angreifer. Wie ernst ist die Lage?

Was haben die Russen bei Charkiw erreicht?

Die russischen Truppen haben eine Reihe von Dörfern im Gebiet um die grenznahe Stadt Wowtschansk erobert, aber nicht die Stadt selbst. Die bisherigen russischen Vorstöße dürften bis zu fünf Kilometer tief in ukrainisches Gebiet hineinreichen. Im Wowtschansk lebten vor dem Krieg knapp 19.000 Einwohner. Von ihnen sind nach offiziellen ukrainischen Angaben nur 500 geblieben – was bei aller Sorge über den russischen Vorstoß eine gute Nachricht ist: Der überwiegende Teil der Zivilisten aus Wowtschansk dürfte in Sicherheit sein.

Nach Einschätzung des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) haben die Russen vor, Wowtschansk einzukreisen. Wegen der Nähe zur russischen Grenze sei die Abwehr dieses Versuchs für die Ukraine besonders schwierig, so das ISW: Die meisten westlichen Partner, darunter die USA und Deutschland, untersagen den Einsatz von ihnen gelieferter Waffen auf russischem Gebiet. Dass die Angreifer im Grenzgebiet nahe Charkiw Truppen zusammenzogen, war seit Monaten unübersehbar – die Ukraine darf Waffensysteme wie die Himars-Raketenwerfer aber nicht gegen ihre dortigen Stellungen einsetzen. Sie ist da auf ihre schwindenden Vorräte ex-sowjetischer Systeme und auf selbst produzierte Waffen angewiesen.

Welche Ziele verfolgt die russische Armee?

Westliche Beobachter sind sich einig: So sehr die russische Armee die Ukraine unter Druck setzt, es ist „kein Sturm auf die Stadt Charkiw“, wie der Analyst Nico Lange dem MDR sagte. Im Vordergrund stehen offenbar zwei andere Ziele: Zum einen will das russische Militär die Ukraine zwingen, eigene Truppen von anderen Frontabschnitten abzuziehen. Zum anderen könnte Charkiw durch das russische Vorrücken in den Einwirkungsbereich russischer Rohrartillerie geraten. Damit droht eine Wiederholung der Situation, die in den ersten Kriegsmonaten herrschte, bis die Ukraine die Angreifer aus dem Umland von Charkiw verdrängen konnte: pausenloser Beschuss, massive Zerstörungen ziviler Infrastruktur und eine neue Fluchtwelle, zudem schwere wirtschaftliche Schäden durch Unterbrechung der Industrieproduktion in der Stadt.

Welchen Preis zahlen die Russen für ihre Offensive?

Um das zu erreichen, nimmt Russland offenbar massive Verluste in Kauf. Zwar sind die vom ukrainischen Generalstab gemeldeten Zahlen nicht überprüfbar, aber deren Tendenz spricht Bände. Allein von Sonntagmorgen bis Montagmorgen soll die russische Armee 1740 Soldaten verloren haben (Gefallene oder schwer Verwundete), die Meldungen der Vortage belaufen sich auf 1260 und 1320.

Insgesamt hat Russland nach ukrainischer Darstellung bisher 484.030 Soldaten durch Tod oder schwere Verwundung eingebüßt. Zum Vergleich: Der britische Verteidigungsminister Grant Shapps ging am Montag von 355.000 getöteten oder schwer verwundeten russischen Soldaten aus, also etwa drei Viertel der von Kiew genannten Zahl. Über die ukrainischen Verluste gibt es keine seriöse Schätzung – Selenskyjs Angabe vom Februar, bisher seien 31.000 ukrainische Soldaten gefallen, dürfte die Realität aber unterzeichnen.

Wie sieht es an anderen Frontabschnitten aus?

Während die russische Armee bei Charkiw vordringt, hat sie an anderen Frontabschnitten derzeit offenbar weniger Erfolg. Insbesondere scheint es der Ukraine vorerst gelungen zu sein, die Front bei Otscheretyne (Gebiet Donezk) zu stabilisieren. Die Angreifer hatten den Ort vor einer guten Woche unter Kontrolle gebracht und wollten offenbar auf Tschassiw Jar westlich von Bachmut vorrücken. Auch russische Angriffe nordöstlich von Bachmut sind laut ISW zurückgeschlagen worden. Für die ukrainische Armee kommt es jetzt darauf an, trotz der Herausforderung bei Charkiw weiter genügend Truppen an der Donbass-Front vorzuhalten. Auch im Süden, im Bezirk Saporischschja, gab es in den letzten Tagen nur kleine Änderungen im Frontverlauf. Und nach wie vor halten sich ukrainische Truppen am linken Dnipro-Ufer bei Krynky.

Relativ ruhig ist die Lage auch auf der Krim. Vor einer Woche veröffentlichte die Ukraine ein Video von Bord einer Seedrohne, die ein russisches Schnellboot bei der Stadt Tschornomorske zerstört haben soll. Und die Ukraine setzt – ungeachtet wiederholter US-Warnungen – ihre Drohnenangriffe auf russische Raffinerien fort. Zuletzt auf die Lukoil-Raffinerie bei Wolgograd, die sie bereits im Februar attackiert hatte, davor auf eine Raffinerie im Bezirk Kaluga, auch hier bereits der zweite Schlag. Bereits im Februar musste Russland seine Treibstoffexporte stoppen und kauft nun selbst im Nachbarland Belarus zu.

Welche Chancen hat die Ukraine noch?

Russland hat mit seiner Frühjahrsoffensive eine Schwächephase der Ukraine ausgenutzt. Vor allem wegen des halbjährigen Ringens um das dann Ende April bewilligte US-Hilfspaket fehlt Nachschub. Auch die versprochenen europäischen Munitionslieferungen kommen nur langsam in Gang. Ein vom Konzern Rheinmetall versprochenes Reparaturwerk für Panzer bei Lemberg (Lwiw) ist bis heute nicht eingerichtet, nur kleinere Reparaturen am Schützenpanzer Marder sind dort möglich. Klar ist natürlich: So ein Werk wäre sofort Ziel russischer Luftangriffe – und auch die ukrainische Luftabwehr ist derzeit mangels Munition überfordert. Mit einem von Deutschland neu versprochenen Patriot-System verfügt das Land über vier solche Systeme. Zum Schutz des ganzen Territoriums wären mindestens 25 erforderlich, die zweifache mögliche Jahresproduktion des Herstellers Raytheon.

Andererseits setzt die Ukraine darauf, dass sich ihre Lage verbessert, wenn die westlichen Lieferungen wieder in größerem Stil rollen. Die F16-Kampfjets, deren erste Exemplare im Sommer kommen könnten, werden dank ihrer Ausrüstung mit Iris-Raketen des deutschen Herstellers Diehl die Luftabwehr deutlich stärken.

Ukraine setzt auf „aktive Verteidigung“

Bis auf weiteres lautet die ukrainische Devise – so Syrskyj – „aktive Verteidigung“. Also: zähes Verteidigen mit kleinen Gegenvorstößen und mit dem Ziel, dem Gegner möglichst hohe Verluste zuzufügen. Immerhin hat Russland seit Kriegsbeginn nachweislich 15.763 Fahrzeuge und schwere Waffensysteme verloren, die Ukraine 5708, so das Portal Oryx. Russische Panzer und Geschütze, die frisch an die Front kommen, sind meist Depots entnommen und aufgearbeitet. Das Internationale Institut für Strategische Studien glaubt, dass Russland bei Panzern noch zwei bis drei Jahre, „eventuell länger“, durchhalten könne. Das hängt davon ab, wie viele der 3000 bis 4500 eingelagerten russischen Panzer in reparablem Zustand sind – im für die Ukraine günstigsten Fall wäre der brauchbare Vorrat in anderthalb Jahren erschöpft. Die Analysten Jack Watling und Nick Reynolds vom Royal United Services Institute erwarten schon für 2025 Engpässe bei der russischen Standard-Artilleriemunition (152 Millimeter). Lediglich für 2024 attestieren die beiden Autoren Russland, es könne die derzeitige Intensität seiner Angriffe durchhalten.

Kurz: Beide Kriegsgegner setzen auf die wirtschaftliche Erschöpfung der Gegenseite. Die Ukraine hat allerdings mit ihren westlichen Partnern einige der größten Volkswirtschaften der Welt im Rücken, während Wladimir Putins Paten in Peking ihm aus Furcht vor westlichen Sanktionen nur begrenzt helfen können.