Ukrainer berichten von Folter„Pistolenlauf in den Mund gesteckt und abgedrückt“

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Gräber Isjum

Ein Massengrab von ukrainischen Soldaten und unbekannten verscharrten Zivilisten im Wald der kürzlich zurückeroberten Stadt Izium.

Balaklia/Isjum – Seit dem Einmarsch in die Ukraine sehen sich russische Truppen dem Vorwurf ausgesetzt, Kriegsverbrechen zu begehen. Es gibt zahlreiche Berichte über willkürliche Festnahmen und Folter durch die Besatzer. Drei Betroffene erzählen von ihren Erfahrungen – von so brutalen Schlägen, dass Knochen brechen, von Drohungen und von Demütigungen.

Anatolii Tutov hat geahnt, dass die Besatzer ihn irgendwann holen kommen würden. Der Lokalpolitiker engagiert sich seit Jahren in proukrainischen Parteien in der Kleinstadt Balaklija, in die am 2. März russische Truppen einmarschierten. Im Juni sei der russische Geheimdienst FSB gefolgt, sagt der 50-Jährige. Ab dem Sommer sei er beschattet worden.

Am 9. August um 6.30 Uhr morgens seien schließlich ukrainische Kollaborateure bei ihm aufgetaucht, um ihn mitzunehmen. „Sie sagten, der (russische Geheimdienst) FSB wolle mit mir sprechen, ich solle meine Dokumente mitbringen.“ Tutov wirft den Besatzern Folter und Kriegsverbrechen vor. Er ist längst nicht der einzige.

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Pistolenlauf im Mund

Tutov steht an seinem Stand mit Lebensmitteln in der Markthalle seiner Heimatstadt in der ostukrainischen Region Charkiw. Chinkali, gefüllte Teigtaschen, sind bei ihm für umgerechnet 2 Euro das Kilogramm zu haben, Pfannkuchen mit Hüttenkäse kosten 2,60 Euro.

Unser Reporter in der Ukraine

Can Merey (50) reist mit dem Fotografen Andy Spyra durch die Ukraine, unterstützt werden sie dabei von ihrem lokalen Kollegen Yurii Shyvala. Merey ist seit dem 1. Oktober 2022 Krisenreporter und Leiter Investigativ beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) in Berlin. Zuvor war er fast zwei Jahrzehnte lang Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Für die Nachrichtenagentur leitete er zwischen 2003 und 2022 das Südasien-Büro in Neu Delhi, das Nahost-Büro in Istanbul und zuletzt das Nordamerika-Büro in Washington. Er ist der Autor von zwei Büchern: „Die afghanische Misere – warum der Westen am Hindukusch zu scheitern droht“ (2008) und „Der ewige Gast – wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden“ (2018).

Als er von seinen Verhören erzählt, gestikuliert der stämmige Händler wild mit den Händen, es wirkt fast, als würde er einen Schattenkampf aufführen. „Sie haben mich verprügelt“, sagt Tutov, während er in die Luft boxt. „Sie haben mir einen Pistolenlauf in den Mund gesteckt und abgedrückt“ – eine Scheinhinrichtung, die Waffe sei nicht geladen gewesen.

Anders habe sich das mit den Gewehren verhalten, mit denen seine Peiniger auf ihn angelegt hätten, um dann knapp daneben zu schießen. Bei den Verhören sei er beschuldigt worden, für den Sicherheitsdienst der Ukraine zu arbeiten. „Sie beschimpften mich als Terroristen, als Nazi“, sagt der Lokalpolitiker. „Für sie ist jeder Ukrainer ein Nazi.“

Zwischenzeitlich sei er ohnmächtig geworden, seine Peiniger hätten ihm aber keine Auszeit gegönnt, sondern ihn mit einem Eimer Wasser wieder zu Bewusstsein gebracht. Als er nicht mehr habe stehen können, sei er an einen Stuhl gefesselt worden.

Die Russen hätten ihn aufgefordert, Parteifreunde zu verraten. Er habe ihnen schließlich die Namen eines Verstorbenen und eines Geflohenen genannt. „Als sie gemerkt haben, dass sie nicht mehr hier sind, haben sie mich wieder geschlagen.“

Seine Ehefrau habe währenddessen verzweifelt nach ihm gesucht, sagt Tutov. Als sie auf der Polizeiwache in Balaklija aufgetaucht sei, habe man sie angelogen, dass er dort nicht festgehalten werde. „Sie hat dann von einem Trick gehört. Wenn man ein Paket mit Lebensmitteln und Kleidern für einen Gefangenen an der Wache abgibt und es angenommen wird, dann ist er auch dort.“

Die Pakete habe er zwar bekommen. Ihm sei aber auch gedroht worden, dass seine Ehefrau festgenommen und vergewaltigt werden würde.

„Das waren mit Sicherheit Kriegsverbrechen”

Bei seinem vierten und letzten Verhör hätten die Russen Kabel an ihm befestigt, den Strom aufgedreht und ihn gezwungen, hüpfend die ukrainische Nationalhymne zu singen. „Sie haben mich dabei gefilmt und gelacht“, sagt Tutov. „Das waren mit Sicherheit Kriegsverbrechen.“

Der Lokalpolitiker ist überzeugt davon, dass Folter von ukrainischen Gefangenen Teil der russischen Strategie in dem Krieg ist. Am 2. September sei er entlassen worden, sagt der Händler – als seine äußerlichen Wunden nicht mehr erkennbar gewesen seien. Rund eine Woche später flohen die russischen Truppen vor der ukrainischen Offensive aus Balaklija.

Artem Larchenko war in derselben Zelle wie Tutov, wie beide übereinstimmend berichten. Larchenko sagt, er sei am 10. Juli festgenommen worden.

Anlass sei gewesen, dass russische Spezialkräfte bei der Durchsuchung seiner Wohnung ein Bild seines Bruders gefunden hätten, der eine ukrainische Armeeuniform getragen habe – er sei in der Hauptstadt Kiew im Einsatz. Die Mutter habe nach dem russischen Einmarsch eigentlich alle Bilder versteckt, dieses aber übersehen.

Tüte über dem Kopf

Für den Transport zur Polizeiwache habe er eine Tüte über den Kopf gestülpt bekommen. Während der Fahrt habe er hören können, wie die Soldaten darüber diskutierten, wer welche der erbeuteten ukrainischen Armeestiefel bekomme. „Einer sagte, bitte reserviere welche für meinen Bruder.“

45 Tage sei er festgehalten worden, sagt Larchenko, 35 Tage davon in Dunkelheit, weil es keinen Strom gegeben habe. Für seine beiden Verhöre organisierten die Russen allerdings Elektrizität, wie sich der Fabrikarbeiter erinnert.

Er berichtet von Folter mit einem Gerät, bei dem Strom über eine Kurbel erzeugt werde. Den Schmerz beschreibt er so: „Als würde man in jede Hand einen Nagel nehmen und beide gleichzeitig in die Steckdose stecken.“ Außerdem sei er mit einem Elektroschocker gequält worden.

Im Vergleich zu anderen Gefangenen sei er aber noch glimpflich davongekommen, sagt Larchenko. „Ich habe jeden Tag Schreie aus dem Verhörraum gehört.“ Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

Ein von den Vereinten Nationen einberufenes Expertengremium kam im September nach mehrmonatiger Untersuchung aber zu dem Schluss, dass russische Truppen in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen haben. Der russische Präsident Wladimir Putin weist das kategorisch zurück.

Manche Ukrainer tragen nach ihrer Freilassung aus russischer Gefangenschaft aber noch sichtbare Wunden mit sich – wie beispielsweise Chendey Mykhailo aus der Stadt Isjum, eine kurze Autofahrt von Balaklija entfernt.

Kurz hinter dem Checkpoint der ukrainischen Streitkräfte am Stadtrand von Isjum liegt ein Waldstück, in dem während der Besatzung ein Massengrab angelegt wurde. Nach dem Abzug der Russen im September wurden nach Angaben der ukrainischen Polizei 447 Leichen dort exhumiert.

Leichen mit Seilen um den Nacken, gebrochene Gliedmaßen

Die Militärverwaltung der Region Charkiw teilte mit, die meisten der Toten hätten Spuren eines gewaltsamen Todes aufgewiesen, 30 davon auch Spuren von Folter: Leichen hätten Seile um den Nacken gehabt, Hände von Toten seien zusammengebunden gewesen. Andere hätten gebrochene Gliedmaßen oder Schusswunden aufgewiesen. Mehreren Männern seien die Genitalien amputiert worden.

Direkt neben dem Massengrab hatten die russischen Truppen im Wald eine Panzerstellung errichtet. Die Straße zu Mykhailos Haus führt an einem russischen Munitionslager vorbei, das bei einem ukrainischen Angriff vernichtet wurde. Im Umfeld der Trümmerwüste liegen noch scharfe Artilleriegranaten, Raketen und Minen herum.

Mit Fußtritten aus der Ohnmacht geholt

Mykhailo betreibt eine Fischzucht, ist aber eigentlich Rentner. Wenn der Mann mit dem furchigen Gesicht spricht oder eine Zigarette zu den Lippen führt, blitzen die Goldzähne in seinem Mund auf.

Der 67-Jährige sagt, die Russen hätten ihm vorgeworfen, der ukrainischen Armee Zielkoordinaten für einen Artillerieangriff auf eine Militärbasis in Isjum geliefert zu haben, die die Besatzer in einer Schule in der Stadt installiert gehabt hätten. Am 29. August sei er deswegen festgenommen worden.

Schon beim ersten Verhör hätten seine Peiniger ihm den linken Unterarm gebrochen, sagt Mykhailo. Der 67-Jährige zieht den linken Ärmel seines blauen Anoraks hoch, um den frisch genähten und dick angeschwollenen Arm zu zeigen, der operiert werden musste.

Er versucht, die Hand zu bewegen, mit wenig Erfolg – er wird sie noch lange nicht wieder richtig benutzen können. Mykhailo sagt, beim Verhör sei er mit Elektroschocks gequält worden. Er sei außerdem so brutal verprügelt worden, dass es zu inneren Blutungen gekommen sei. Als er vor Schmerzen ohnmächtig geworden sei, hätten ihn die Russen mit Fußtritten wieder aufgeweckt. „Aber ich wollte nichts zugeben, was ich nicht gemacht habe.“

Vor dem russischen Vormarsch war Mykhailo mit seiner Ehefrau in die zentralukrainische Stadt Poltawa geflohen. Er sei dann aber zurückgekehrt, weil er sich um das Haus in Isjum Sorgen gemacht habe, sagt er. Zwei Wochen habe er dafür gebraucht, schließlich musste er die Front zwischen den Ukrainern und den Russen in die besetzten Gebiete überqueren. Die letzten zwölf Kilometer sei er gelaufen.

Zehn Tage Gefangenschaft

Die Rückkehr stellte sich bald als Fehler heraus. Zehn Tage sei er in Gefangenschaft gewesen, erzählt Mykhailo. Medizinische Hilfe habe er nicht bekommen, seine inneren Blutungen hätten aber angedauert. Bewacht worden sei er von ukrainischen Kollaborateuren, die die russischen Soldaten schließlich davon überzeugt hätten, dass sie eine Leiche in der Polizeistation nicht brauchen könnten. „Dann ist erst ein Krankenwagen gekommen.“ Sein Blutdruck sei fast nicht mehr messbar gewesen. Auf der Intensivstation sei er vier Tage lang bewusstlos gewesen.

Sein Sohn habe in der Stadt Charkiw Blutkonserven organisieren können. Vier Liter Blut habe er bekommen müssen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ist in einer erst kürzlich veröffentlichten Untersuchung zu dem Schluss gekommen, Folter durch russische Truppen in Isjum sei kein Zufall, sondern geplant gewesen.

Mykhailo geht ebenfalls davon aus, dass es sich bei Folter durch russische Soldaten in der Ukraine nicht um Einzelfälle, sondern um System handele. „Es ist russische Politik“, sagt der 67-Jährige. Als er gefragt wird, was er nach seinen Erfahrungen von den Russen hält, antwortet er erst mit Schimpfwörtern, die Geschlechtsakte und Tiere beinhalten.

Dann sagt er: „Sie sind schlimmer als Faschisten.“

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