Terre-des-Hommes-Chef Joshua Hofert fordert mehr Sensibilität, klare Regeln und Aufklärung, bevor Kinder überhaupt im Netz sichtbar werden. Aber wie lässt sich das verhindern?
Terre-des-Hommes-Chef warnt„Kinder werden gezeigt, wie sie es selbst nie getan hätten“

Influencer teilen intime Momente mit ihren Kindern im Netz.
Copyright: picture alliance/dpa
Kinderschutz hat nicht nur mit Missbrauch oder Armut zu tun. Im Interview mit Burkhard Ewert warnt der Terre-des-Hommes-Chef Joshua Hofert Eltern davor, ihre Kinder bei Social Media in Szene zu setzen: „Sehr oft wird das Kind öffentlich von einer Seite gezeigt, wie es das eigenständig sicherlich nicht getan hätte.“ Sollte es Verbote geben, die Eltern das Posten ihrer Kinder untersagen?
Herr Hofert, als Kinderrechtsorganisation blickt Terre des Hommes nicht nur nach Afrika, Asien und Lateinamerika, sondern auch auf Europa. Was treibt Sie dort um?
Unter anderem der digitale Raum. Kinder müssen dort geschützt werden, und das geschieht in vielerlei Hinsicht zu wenig. Meist denkt man an sexuelle Gewalt oder Ausbeutung, und das stimmt ja auch. Aber die Problemlagen gehen viel weiter. Künstliche Intelligenz ist ein Thema, aber von Belang ist außerdem, was die eigenen Eltern mit ihren Kindern machen, wie sie sie präsentieren. Das geht auch abseits von sexuellen Kontexten zu weit.
Wie meinen Sie das?
Das beginnt damit, wenn sie Gesichter der Kinder posten oder ihre Kinder in sehr privaten Momenten darstellen. Eine Künstliche Intelligenz wird das noch in 50 Jahren zuordnen können. Will das Kind das? Nutzt dem Kind das? Eher nicht. Noch schwieriger wird es, wenn die Kinder Teil eines digitalen Geschäftsmodells der Eltern sind.
Wie hat man sich das denn vorzustellen?
Sie werden instrumentalisiert und in Videos in Szene gesetzt und dann in den sozialen Netzwerken gepostet. Manchmal wirken sie nur am Rande oder im Hintergrund mit, manchmal aber stehen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit und dienen dazu, Reichweite für die Kanäle der Eltern zu schaffen. Ist dann noch Geld im Spiel, reden wir über Ausbeutung und eine neue Form von Kinderarbeit – denn Reichweite bringt den Eltern auf kommerziellen Kanälen nun einmal Werbeeinnahmen.
Welche Arten von Videos gibt es da?
Es gibt eine Vielzahl an Videos, die vermeintlich den normalen Alltag der Familie zeigen. Dabei werden jedoch viele private und intime Informationen über die Kinder geteilt. So können sie Kindern im Netz beim Trockenwerden oder beim Gang aufs Töpfchen zuschauen, Wutanfälle verfolgen oder sie bei Krankenhaus-Aufenthalten sehen. Eltern berichten über die Veränderungen ihrer Kinder während der Pubertät, lesen Zeugnisse vor oder filmen Reaktionen beim Öffnen der Geburtstagsgeschenke. Vielfach werden die Kinder animiert, Werbegeschenke zu testen oder zu nutzen und damit den Verkauf des Produktes weiter anzukurbeln. Oft sieht man an der Art, wie die Videos gemacht sind, dass das Stunden gedauert hat. Dann hat das Kind plötzlich die neusten Klamotten an, dann gibt es eine neue Einstellung, dann einen Filter – das ist nichts anderes als Arbeit, auch für das Kind.
Ohne Geld ist es besser?
Zumindest scheint das Ausmaß geringer zu sein und sicherlich auch der Druck, immer neue Beiträge zu produzieren. Trotzdem teilen viele Eltern höchst intime Momente: das erste Zeugnis, einen Unfall, das Kind hat ins Bett gemacht, später Liebeskummer, Heimweh – sehr oft wird das Kind öffentlich von einer Seite gezeigt, wie es das eigenständig sicherlich nicht getan hätte. Kein Kind kann sich frei entfalten, wenn es von seinen Eltern permanent im Netz präsentiert wird. Ich kann da an Eltern nur appellieren, bei jedem Foto oder Video genau zu überlegen, mit wem es geteilt wird und ob sie selbst sich so online zeigen würden. Daneben gibt es aber zum Glück auch viele verantwortungsbewusste Eltern, die Aufnahmen ihrer Kinder nur im privaten Raum und mit Zustimmung der Kinder teilen.
Was ist mit künstlicher Intelligenz, also Folgen von KI?
Das Wort Kindesschutz beginnt mit den Buchstaben K und I – viel mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Personenbezogene Daten werden ohne Einverständnis ausgelesen und Produkte speziell auf Kinder zugeschnitten und verführerisch gestaltet. Das ist momentan meine größte Sorge: Stellen Sie sich einen Chatbot vor, der speziell darauf trainiert ist, mit Kindern zu kommunizieren. Er geht auf sie ein, das Kind fühlt sich verstanden, und KI ist ja so konstruiert, dass sie ihre Nutzer tendenziell bestärkt, auch in Dingen, wo das besser unterbleiben sollte. Eine KI wird nicht hart widersprechen, sie wird nicht immer klare Warnungen aussprechen. So ist sie nicht aufgesetzt. Wenn ein 13-Jähriger zum Beispiel fragt, ob er sich mit Älteren treffen darf, wird die KI meistens nicht widersprechen.Die KI hat außerdem Zugang zu Informationen, die nicht jugendfrei sind. Über diesen Umweg können fragwürdige Daten zu Kindern jeden Alters gelangen. Das kann uns als Kinderschutzorganisation nicht egal sein. Sicherlich gibt es auch Chancen, etwa bei der Strafverfolgung und dem Sprengen von Missbrauchsnetzen. Hier haben Behörden bereits Erfolge erzielt, indem sie zum Beispiel KI-Avatare als Köder eingesetzt haben.
Was sollten Eltern tun?
Viele Eltern gehen sehr bewusst mit den Daten ihrer Kinder um – aber die Gefahren für Kinder im digitalen Raum nehmen tendenziell zu. In einem ersten Schritt sollten sich Eltern mit diesen Gefahren beschäftigen und sich umfassend informieren. Dann ist es wichtig, dass Eltern ihre Kinder über die Risiken im digitalen Raum aufklären und einen verantwortungsvollen Umgang mit Medien anleiten. So können Kinder befähigt werden, selbst zu entscheiden, welche Inhalte sie teilen möchten. Beim Teilen von Fotos und Videos sowie privaten Informationen über die Kinder ist grundsätzlich Vorsicht geboten, denn dies kann nicht nur die Privatsphäre verletzen, sondern auch ihre persönliche Sicherheit gefährden. Daher sollte die öffentliche Darstellung von Kindern im Netz auf ein sinnvolles Minimum reduziert werden und klaren Regeln folgen, denen auch die Kinder zustimmen. Und ganz wichtig: Kinder unter drei Jahren sollten auf keinen Fall in öffentlichen Kanälen auftauchen.

