Kölner Lungenarzt mit dramatischen Worten„Entweder geimpft oder infiziert“
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Professor Christian Karagiannidis (47), leitender Oberarzt der Lungenintensivstation am Krankenhaus Köln-Merheim, ist eine wichtige Stimme in der Diskussion über Corona-Maßnahmen.
Im Interview mit Diana Haß bewertet er die Aussagekraft von Inzidenzen und schaut Richtung Herbst.
Köln – Offenbar sind sich viele einig, dass wir zur Bewertung der Lage nicht mehr nur auf Inzidenzen schauen dürfen. Können wir sie perspektivisch vernachlässigen?
Nein. Aber man muss sich im Kopf davon trennen, dass Inzidenzen von beispielsweise 100 künftig die gleiche Bedeutung haben wie früher. Jetzt muss man eher sagen: Eine Inzidenz, die früher 100 war, ist jetzt im Moment nicht ganz so schlimm, weil viel mehr Menschen der Risikogruppen geimpft sind. Die neue Grenze liegt dann einfach höher. Ich würde die Inzidenzen aber nicht zu sehr verteufeln, sie sind echt wichtig. Es ist also nicht so, dass die Inzidenzen keine Rolle mehr spielen.
Damit hat man einen Marker und ein Frühwarnsystem, wie sich die Infektion in der Bevölkerung verbreitet. Und das braucht man auch weiterhin. Es muss aber hinzukommen, dass man die Inzidenzen nicht isoliert betrachtet. Wir hatten ja eine ganze Zeit in den Ministerpräsidenten-Entscheidungen die Inzidenzwerte immer als Richtschnur für Entscheidungen.
Was schlagen Sie vor?
Meine Empfehlung ist für die nächste Ministerpräsidentenkonferenz und die Gesundheitsministerkonferenz, dass man hinzunimmt: Wie viele Patienten kommen ins Krankenhaus und wie viele sind auf den Intensivstationen? So hat man drei Parameter, an denen man festmachen kann, wie hoch die Belastung durch das Virus ist. Extrem wichtig wird vor allem im Winter: Wieviele freie Intensivbetten gibt es überhaupt noch?
Es gibt den Vorschlag, die Grenzwerte für Corona-Schutzmaßnahmen wie einen Lockdown hochzustufen, also aus dem Grenzwert von 50 auf 100 zu gehen. Was halten Sie davon?
Darüber würde ich noch mal gut nachdenken. Ich plädiere dafür, dass wir uns den Dreiklang ansehen: Inzidenzen, Krankenhausaufnahmen, Intensivaufnahmen. Dann haben wir ein kompletteres Bild. Das einfach hochzusetzen, finde ich nicht richtig.
Wie ist aktuell die Covid-Lage auf den Intensivstationen?
Die ist ruhig. Wir haben noch ein paar ältere Fälle, Patienten die sich erholen müssen. Aber es ändert sich. Wir haben beispielsweise in den städtischen Kliniken Köln, nachdem wir wochenlang Ruhe hatten, jetzt wieder die ersten beiden neuen Patienten. Das ist zwar wenig, aber es ist ein Zeichen.
Ändert sich das Alter der Intensiv-Patienten?
Das wissen wir noch nicht. Aber ich gehe sehr stark davon aus. Ich kontrolliere jeden Tag die Daten aus England und stehe in Kontakt mit Kollegen dort. Da hat sich das Alter schon geändert. Die Kollegen sagen, dass bei ihnen jetzt die 20- bis 40-Jährigen ins Krankenhaus kommen – fast alle mit der Delta-Variante.
Das ist jung.
Ja. Die Älteren sind größtenteils geimpft. Und in der Pandemie hatten wir eine Phase, in der sich die Älteren besonders gut geschützt haben. Da war das Überspringen in deren Altersgruppe nicht so stark. Die waren schon sehr diszipliniert. Wir haben jetzt laut RKI-Report die Hauptinfektionslast im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Die machen sich halt die wenigsten Gedanken und sind am wenigstens geimpft.
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Hinzu kommt, dass die Ständige Impfkommission für Unter-18-Jährige bisher keine Impfempfehlung gibt. Wie sehen Sie das?
Die Stiko versucht, alle Daten auszuwerten. Die wollen wirklich eine gute Entscheidung treffen aufgrund der Datenlage. Man hat in diesem Altersbereich bisher nicht so sehr viele Daten. Mir ist aber in den letzten Wochen durch die Daten aus England noch mal klar geworden, dass das Virus so eine hohe Verbreitung hat, dass die Alternative ist, entweder geimpft sein oder Infektion. Wir kommen überhaupt an nichts anderem mehr vorbei. Es wird keiner verschont bleiben in den nächsten Monaten und Jahren. Weil wir für die 12- bis 16-Jährigen einen guten Impfstoff haben, würde ich mich sehr für die Impfung bei den über 12-Jährigen aussprechen. Viele Länder um uns herum empfehlen das jetzt.
Wie stehen Sie zur Herdenimmunität?
Das Virus ist so infektiös, dass wir Schwierigkeiten haben werden, die Leute so zu schützen. Bei den 18- bis 60-Jährigen haben wir in Deutschland etwa 43 Millionen Menschen. Wenn davon 20 Prozent nicht geimpft sind, entspricht das knapp zehn Millionen. Das ist die Größe von Schweden. Wenn da das Virus wie in England draufprallt mit so einer hohen Verteilung, ist es völlig unmöglich, dass die Ungeimpften geschützt werden. Das zeigt England ja gerade. Deshalb glaube ich nicht, dass es eine Herdenimmunität gibt. Die wichtigste Botschaft: Entweder man ist geimpft oder man kriegt die Infektion. Wenn wir selbst im Hochsommer in Holland eine Explosion der Zahlen haben, dann kann ich mir an zwei Fingern ausrechnen, was am Ende kommt.
Ist eine vierte Welle unausweichlich?
Wir werden auf jeden Fall noch mal einen starken Anstieg der Patienten-Zahlen sehen. Ob es eine richtige Welle wird, hängt vom Verhalten der Bevölkerung ab. Und es wird viel davon abhängen, ob wir die Masken behalten. Wenn die wegfallen und alle in die Innenräume gehen, dann kriegen wir ein Problem.
Wie sehen Sie die Rolle der Kinder?
Ich glaube, wir können die Kinder am besten schützen, indem sich die Eltern impfen lassen. Das ist das Allerwichtigste. Und ich glaube, wir müssen versuchen, Schulen offenzuhalten bis zum Gehtnichtmehr.
Wie ist laut DIVI-Intensivregister generell die aktuelle Situation auf den Intensivstationen bundesweit?
Wir haben immer noch eine relativ hohe Auslastung. Wir fragen täglich die Betriebssituation in 1300 Krankenhäusern nach einem Ampelsystem ab. Grün steht dabei für eine entspannte Situation, dies gab am Donnerstag nur die Hälfte der Kliniken an. Corona war extrem anstrengend, physisch und psychisch. Wir hatten vorher schon ein Pflegeproblem, und das ist durch Corona nicht besser geworden. Das macht mir schon Sorgen. Das hatten wir im letzten Sommer nicht. Da waren fast alle Meldungen auf Grün.
Was ist die Lambda-Variante
Die Delta-Variante des Coronavirus überwiegt inzwischen beim Infektionsgeschehen in Deutschland. Jetzt macht eine Variante aus Südamerika Schlagzeilen, die sich vor allem in Peru verbreitet und dort bereits vorherrschend ist: Lambda. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Lambda in bisher 29 Ländern festgestellt. Peru gilt als Ursprungsland. Im benachbarten Chile wurde ungefähr bei einem Drittel der untersuchten Infektionen die Lambda-Variante erkannt. In Europa tauchte diese Mutante bisher kaum auf. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) liegt die Zahl der Fälle in ganz Europa im dreistelligen Bereich, an die 3000 sind es weltweit (Stand Mitte Juli). Der Anteil des Lambda-Virus an Neuinfektionen beträgt in Deutschland weniger als ein Prozent. Das könnte sich jedoch schnell ändern. Auch bei der Delta-Variante gab es vor wenigen Monaten noch minimale Fallzahlen.
Insgesamt elf Varianten des Virus Sars-CoV-2 stehen aktuell unter der Beobachtung der WHO. Lambda ist Nummer 11 und nach dem elften Buchstaben im griechischen Alphabet benannt. Im Mai hatte die WHO beschlossen, die Mutanten von Sars-CoV-2 nach griechischen Buchstaben zu benennen. Die zwischen Delta und Lambda liegenden Varianten (Epsilon, Zeta, Eta, Theta, Iota, Kappa) sind derzeit weniger auffällig. Die WHO teilt die registrierten Viren in zwei Gruppen: „besorgniserregend“ und „unter Beobachtung stehend“. Lambda gilt derzeit nicht als besorgniserregend. (EB)