London – Szilvia Newell musste sich nach über sieben Stunden im Stau erst einmal die Beine vertreten. Sie war am Freitag mit ihrem Mann und ihrer nur wenige Monate alten Tocher nach Ungarn aufgebrochen. Um 9.20 Uhr wollten sie eine Fähre erreichen. Vergeblich. Ihre Familie sei müde, hungrig und habe Schmerzen. „Es ist frustrierend“, sagte sie gegenüber Medien.
Staus zu Ferienbeginn sind üblich in Großbritannien. Was sich für Reisende auf dem Weg nach Frankreich abspielte, überstieg jedoch jedes übliche Maß. Am Wochenende fanden sich Briten im Südosten Englands, bei der Zufahrt auf den Fährhafen von Dover und vor der Autoverladung des Eurotunnels in Folkestone in kilometerlangen Blechkolonnen wieder. Der Fährhafen rief am Wochenende den Ausnahmezustand aus. Das Nadelöhr für Autos in Folkstone wurde vom Automobilverband „AA“ zum „Hotspot der Ferienhölle“ erklärt.
Ist der Austritt Großbritanniens aus der EU schuld an dem Chaos?
Wer für die Situation verantwortlich ist, beschäftigte in den letzten Tagen die Medien in Großbritannien. Und wie so oft schoben sich Briten und Franzosen gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Außenministerin Liz Truss und der frühere Finanzminister Rishi Sunak, die Finalisten im derzeit laufenden Rennen um die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson, beschuldigten gestern Frankreich, das Chaos angestiftet zu haben. Der Vorwurf: Die französische Grenzbehörde habe seit der Pandemie nicht genug Grenzpersonal entsandt. Der französische Verkehrsminister Clément Beaune hielt dagegen: „Ich habe das mit meinem Kollegen Grant Shapps besprochen. Aber Frankreich ist nicht für den Brexit verantwortlich.“
Ist der Austritt Großbritanniens aus der EU also schuld an dem Chaos? Ulrich Hoppe von der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer ist davon überzeugt: „Großbritannien hat nun eine Außengrenze mit der EU, und damit häufen sich die Kontrollen“, sagte er unserer Redaktion. Das gilt in erheblichem Maße für den Transport von Waren, aber auch für den Personenverkehr. Jede Kontrolle dauert länger – und das summiert sich letztlich. Früher hätten Briten einfach ihren Pass gezeigt, dann wurden sie durchgewinkt. Jetzt müssen die Beamten stempeln, die Reisepläne erfragen und zudem sicherstellen, dass der Reisende über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um seinen Aufenthalt im Ausland zu finanzieren. Beobachter berichteten, dass die Kontrollen einer vierköpfigen Familie am Wochenende rund 90 Sekunden gedauert hätten. Dreimal länger als vor dem Brexit.
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Gleichzeitig waren in den vergangenen Tagen auf der britischen Seite tatsächlich weniger französische Grenzwächter im Einsatz als geplant. Die französischen Behörden seien eigentlich auf den Ansturm vorbereitet gewesen, hieß es – sie sahen sich jedoch mit einem herben Rückschlag konfrontiert, als gleich fünf Beamte am Freitag nicht zur Arbeit im Hafen von Dover erschienen. Dies habe gemeinsam mit einem starken Anstieg der Reisenden und einigen Auto-Unfällen einen „perfekten Sturm“ ausgelöst.
Aktuell hat sich die Situation zwar gebessert, Experten gehen jedoch davon aus, dass es am kommenden Wochenende erneut zu einem Verkehrschaos kommen könnte. Hoppe rechnet damit, dass sich die Lage an der Grenze erst nach den Sommerferien wieder entspannt, und verglich dies mit der Situation bei der Deutschen Bahn: „Es wurde alles extrem effizient gestaltet, und dadurch hat man im Notfall keine Ressourcen.“