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Rundschau-DebatteWas läuft schief beim Bürgergeld?

6 min
„Nur 60 Prozent der Termine finden statt“: Thomas Holz in seinem Büro im Jobcenter des Salzlandkreises.

„Nur 60 Prozent der Termine finden statt“: Thomas Holz in seinem Büro im Jobcenter des Salzlandkreises.

Ein Jobcenter-Direktor schildert, wie Leistungsberechtigte seinen Mitarbeitern auf der Nase herumtanzen. Und er erklärt, was sich aus seiner Sicht dringend ändern sollte.

Die Regierung will erwerbsfähigen Arbeitslosen die Grundsicherung streichen, wenn sie Jobs ausschlagen. Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher kritisiert die Pläne als „Ablenkungsmanöver“. In der SPD werden Unterschriften für ein Mitgliederbegehren gegen die Bürgergeld-Reform der eigenen Parteichefin und Sozialministerin Bärbel Bas gesammelt. Tobias Schmidt hat bei Thomas Holz nachgefragt. Der 53-Jährige leitet seit 2016 das Jobcenter Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt. Wie klappt das so im Alltag mit den Bürgergeld-Regeln? Wie viele Schwänzer gibt es? Und was würden Sanktionen bringen?

Fall eins: Zweieinhalb Jahre kein Kontakt

„Ich schildere Ihnen einen Fall, von denen wir durchaus mehrere haben: Ein Mann, Mitte 40, hatte verschiedene Helferjobs im Lagerbereich, bevor er arbeitslos wurde. Die zuständige Eingliederungsberaterin berichtet: Der letzte persönliche Kontakt fand im April 2023, also vor zweieinhalb Jahren, statt. Es wurde zwar der obligatorische Kooperationsplan erstellt, aber der Mann ist zu keinem Folgetermin erschienen.

Nachdem der Kunde auch einen Anhörungstermin wegen Meldeversäumnis nicht wahrgenommen hat, wurde die Leistung für einen Monat um 10 Prozent gemindert, also um 56 Euro. Das hat ihn nicht beeindruckt.

Es folgten weitere Schreiben, eine Anhörung zur Mitwirkung, schließlich eine schriftliche Anhörung, gefolgt von einer zweiten Leistungsminderung um 10 Prozent für einen Monat. Inzwischen bekommt der Kunde wieder den vollen Regelsatz von 563 Euro.

Zwar können laut Rechtslage Leistungen um 30 Prozent gekürzt werden. In der Realität kommen wir allerdings nie in die Nähe der 30 Prozent: Der Aufwand, das voranzutreiben und nachzuhalten, ist zu hoch und die Frage, was bewirkt das Ganze eigentlich, nicht klar zu beantworten. Uns geht es nicht darum, die 56 oder 112 oder 168 Euro zu sparen, sondern die Menschen dazu zu bringen, zu kooperieren. In der Zeit, die die Vermittlerin in die oben beschriebene Person investiert, könnte sie zwei andere Kunden in Arbeit bringen.“

Fall zwei: Gibt es Geld von der Oma?

„Ein zweiter typischer Fall: Ein 22-Jähriger hat nach dem Ende seiner schulischen Laufbahn elektronisch seinen Antrag gestellt. Damit hat er erst einmal Anspruch auf Leistung für ein Jahr. Beim Eingliederungsberater erscheint er trotz mehrfacher Aufforderung nicht. Wir haben ihm bereits vier Mal für jeweils einen Monat die Leistung um 10 Prozent gemindert. Das beeindruckt ihn leider nicht. Vielleicht erhält er Unterstützung aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Bekommt er Geld von der Oma? Wir können das nur vermuten. Eine weitere Leistungsminderung ist nicht möglich, weil noch kein Gespräch beim Berater erfolgte und daher kein Kooperationsplan zustande gekommen ist, der Bedingung für weitere Kürzungen wäre.

Was unabhängig von diesem Fall interessant ist: Wird die Leistung – aus welchen Gründen auch immer – eine Woche später ausgezahlt, nehmen Leistungsberechtigte sehr, sehr schnell Kontakt zu uns auf. Dann wird angerufen und nachgefragt, wo das Geld bleibt. Meine Schlussfolgerung: Wenn wir Zahlungen bei Terminversäumnissen rasch befristet einstellen könnten, dann würde das sehr scharf ziehen und uns in Kontakt insbesondere mit den sonst nicht kooperationswilligen Bürgergeldbeziehern bringen. Das würde uns sehr helfen.“

Fall drei: Jobangebot kaum nachweisbar

„Ein drittes Beispiel: Betrifft einen Ukrainer, der uns über ein Beschäftigungsangebot nicht informiert hat. Ihm wollten wir rückwirkend anteilig die Leistung kürzen. Daraufhin hat er ein, ich sage mal, Gefälligkeitsschreiben des Arbeitgebers bekommen, in dem es hieß, es gab doch gar kein Jobangebot. Damit ist unser Verfahren hinfällig.

Auch aktuell könnten Leistungen vom Jobcenter schon komplett einbehalten werden, wenn jemand der Vermittlung in Arbeit nicht zur Verfügung steht. Aber das ist reine Theorie. Denn man bräuchte einen Arbeitgeber, der ein Stellenangebot für eine konkrete Person offen hält, auch wenn diese dann nicht kommt. Und diesen Sachverhalt muss das Jobcenter belegen können. Solche Fälle gibt es in der Praxis nicht.“

Nur 6 von 10 Terminen finden statt

„Bei uns finden 60 Prozent der vereinbarten Termine statt. Die Hälfte der geplatzten Termine wird abgesagt. Zwei von zehn Terminen finden einfach unentschuldigt nicht statt. Da sitzt der Berater und wartet vergebens, niemand kommt. Wenn das Wetter besonders gut ist, kommen deutlich weniger Leistungsberechtigte zum Jobcenter. Den Frust unserer Beschäftigten verstehe ich gut.

Ein Berater betreut 200 Leistungsberechtigte. Wenn er sich um einen von ihnen intensiver kümmert, geht das zu Lasten anderer. Also ist das immer eine Abwägung: Wie viel Aufwand betreibt man?

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Unseren Mitarbeitern geht es nicht ums Sparen durch Leistungskürzungen, sondern um die Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Wenn die Leute aber merken: Es bringt keinen finanziellen Mehrwert, zu kooperieren, ich bekomme so oder so mein Geld, dann funktioniert es nicht. Was wir allerdings auch häufig erleben: Dass Kunden, die an Maßnahmen teilnehmen und wieder Erfolg haben, im Nachgang sagen: ‚Hättet Ihr uns das nicht gleich sagen können? Jetzt wissen wir: Ihr wollt uns was Gutes!‘ Dass es um Hilfe geht, ist am Schreibtisch eben schwierig zu vermitteln.“

Wünsche an Union und SPD

„Der Koalitionsausschuss hat sich geeinigt, die Leistungen nach vier versäumten Terminen komplett zu streichen. Ich kann das verstehen. Aber eigentlich braucht es keinen Überbietungswettbewerb bei den Sanktionen. Entscheidend ist, dass bei versäumten Fristen und Anhörungen sofort reagiert wird. Wenn jemand dann sagt, das interessiert mich alles gar nicht, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bedürftig. Das ist eine kleinere Gruppe. Aber wer sich Leistungen erschleicht, gegen den sollte sich der Staat wehren.

Die deutlich größere Gruppe der Terminsäumigen meint: Wenn mein Schwänzen folgenlos bleibt, ist‘s wohl auch nicht wirklich verboten – ähnlich dem Überfahren einer roten Ampel. Wird sofort um 30 Prozent gekürzt, oder für einen Monat auch komplett, dann würde ich erwarten, dass deutlich über 90 Prozent der betreffenden Leistungsberechtigten sagen: Hoppla, das mache ich nicht wieder.

Kurzum: Wir wollen schnelle Verfahren und Vertrauen der Politik in die Jobcenter. Wir müssen in eindeutigen Fällen auf eine Vor-Ort-Anhörung verzichten können und schriftlich vorgehen, weil das viel Zeit und Kraft spart. Und schon, wenn wir beim Erstgespräch merken, da gibt es keinen vollumfassenden Zug zur Arbeit, müssen Leistungen einbehalten werden können. Letzter Punkt: Wenn jemand x-mal geschwänzt hat und dann wieder auftaucht, als wäre nichts gewesen, sollte er die einbehaltenen Leistungen nicht zurückbekommen. Das Zurückzahlen ist irre aufwendig und von der Anreizsystematik nicht logisch.

Die Vereinbarung des Koalitionsausschusses, notorischen Terminschwänzern auch die Kosten der Unterkunft zu streichen, sehe ich allerdings skeptisch. Das könnte am Ende mehr schaden, weil die Menschen dann in echte Not geraten und gar keine Ressourcen mehr haben, zurück in Arbeit und ins selbstständige Leben zu finden.“