Nicholas Müller, der frühere Frontmann der mittlerweile aufgelösten Band „Jupiter Jones“, fordert mehr Aufmerksamkeit für seelische Erkrankungen. Mit dem Musiker sprach Angela Sommersberg.
Herr Müller, „Still“ war im Jahr 2012 der meistgespielte Song im Radio, er war das erfolgreichste Lied Ihrer ehemaligen Band „Jupiter Jones“. Doch er behandelt ein extrem trauriges Thema – den frühen Tod Ihrer Mutter. Ist das nicht fast schon makaber?
Ja, da bin ich voll auf Ihrer Seite, aber das ist ja leider oft so im Leben. Wir haben es allerdings erstmal so aussehen lassen, als wäre das Lied die Geschichte einer gescheiterten Liebe. Das war es letztlich ja irgendwie auch. Aber wir sind bewusst nicht auf diese Befindlichkeitsschiene gegangen, wie das oft Teilnehmer in Castingshows machen. Als „Still“ dann ein Hit war, hatte ich aber das Bedürfnis, die Geschichte dahinter zu erzählen. Für mich ist schwierig, dass ich meine Mutter nie fragen konnte, ob es okay ist, dass ich ein Lied über sie geschrieben habe. Sie stand nämlich ungern im Mittelpunkt.
Heute benennen Sie den Tod Ihrer Mutter als Auslöser für Ihre Angststörung. Können Sie uns kurz erzählen, wie alles angefangen hat?
Ja, das war der berühmte finale Tropfen. Meine Mutter war immer meine Beraterin, der Mensch, den ich aufgesucht habe, wenn mir das Herz gebrochen wurde oder irgendwas schief lief. Ähnlich war das mit meiner Großmutter, die kurze Zeit vorher gestorben ist. Und dann waren plötzlich die beiden großen Ratgeberinnen meines Lebens nicht mehr da. Meine erste Panikattacke hatte ich in der Kirche bei der Trauerfeier nach dem Tod meiner Mutter vor Publikum – das war nicht schön.
Wie genau hat sich Ihre Angststörung denn geäußert? Wovor hatten Sie Angst?
Die Panik hat sich so geäußert, wie sie es in den nächsten zehn Jahren auch tun sollte, nämlich mit Todesangst, Kaltschweißigkeit und Schwindel. Es fühlt sich an wie Sterben. Ein echtes Wovor gibt es nicht. Dass ich Angst vor Alltäglichkeiten hatte, hat sich erst später eingeschlichen. Das ist dann die Angst vor der Angst: Man hat Angst, in den Supermarkt oder überhaupt vor die Tür zu gehen, weil man glaubt, dass jeden Moment wieder eine Panikattacke kommt. Die Angst ist eine Krankheit – und auch als solche anerkannt. Ich persönlich sehe sie mittlerweile vor allem als Symptom für das, was so in der Seele passiert. Das war bei mir zu dem Zeitpunkt eine ganze Menge: viel Verlust, viel Trauer, viel Vermissen. Aber ich habe das nie richtig verarbeitet.
Zur Person und Hilfe
Nicholas Müller (36) war Sänger bei Jupiter Jones bis er wegen seiner Angststörung im Jahr 2014 ausstieg. Für den Song „Still“ erhielt die Band einen Echo. Mittlerweile hat Müller erfolgreich eine Therapie gemacht und ein Buch über seine Erkrankung geschrieben („Ich bin mal eben wieder tot“, Knaur, 272 Seiten, 12,99 Euro, E-Book: 10,99 Euro). Er hat auch eine neue Band gegründet: Von Brücken. Die Band tritt am 25. und 26. Januar in der Kölner Kulturkirche auf.
Leiden Sie selbst oder Angehörige unter einer Angststörung? Hier finden Sie weitere Informationen zum Thema und Hilfe. In Köln gibt es zwei Selbsthilfegruppen für Menschen mit Angststörungen.
Kontakt stellt die Selbsthilfe-Kontaktstelle Köln her:
☎ 0221/95154216
(Mo + Do 9 bis 12.30 Uhr,
Mi 14 bis 17.30 Uhr)
www.selbsthilfekoeln.de
Deutsche Angstselbsthilfe
☎ 089/5155530
(Mo 11 bis 13 Uhr, Do 15 bis
18 Uhr)
www.angstselbsthilfe.de
Die Hapuk (Hochschulambulanz für Psychotherapie der Uni Köln) bietet Kindern und Erwachsenen therapeutische Hilfe an:
☎ 0221/4705813
(Mo bis Fr, 9 bis 12 Uhr)
www.hapuk.de
Das heißt, Sie hatten nicht konkret Angst vor einer Sache?
Nein. Ich will Phobien auf keinen Fall klein reden. Wenn jemand Angst vor Spinnen hat, vor der Haustür ein Exemplar sitzt und man deswegen nicht mehr aus dem Haus gehen kann, dann schränkt das ein. Aber so war es bei mir eben nicht. Es war eine unkonkrete Angst, die ich nicht richtig verorten konnte und die irgendwann permanent da war. Es ist schwer zu erklären, aber vielleicht hilft dieses Bild: Der Moment, wenn man im Treppenhaus auf der obersten Stufe steht, kurz stolpert und fast fällt. Dann rast das Herz, weil man darüber nachdenkt, dass man hätte sterben können, wenn man die komplette Treppe runtergestürzt wäre. Dieses Gefühl auf eine Dreiviertelstunde gedehnt und verbunden mit vielen körperlicher Symptomen, das ist eine Panikattacke.
Zunächst dachten Sie ja, Sie hätten ein körperliches Problem. Erst nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass der Grund eine Angststörung ist. Wie schwierig ist es, eine solche Diagnose zu akzeptieren?
Genau, die Diagnose ist erfolgt, nachdem mein kompletter Körper durchgecheckt wurde und sich niemand getraut hat, zu sagen: Da ist nichts. Erst die junge Hausärztin in meinem 600-Seelen-Dorf hat das Wort Angsterkrankung ausgesprochen. Aber eigentlich ist es ja klar: Wenn es nicht der Körper ist, dann muss es der Geist sein. Ich war froh, endlich einen Namen zu haben. Ein Problem damit, die Diagnose zu akzeptieren, hatte ich hingegen nie. Ich sehe körperliche und seelische Erkrankungen gleich und es gibt keinen Grund zur Scham. Es ist doch egal, ob ich nicht mehr kann, weil mein Bein gebrochen ist oder weil meine Seele schlapp macht. Trotzdem war ich irgendwie der Meinung, dass ich das alleine hinkriege. Heute rate ich allen: Seid nicht schamhaft, euch Hilfe zu suchen und Hilfe anzunehmen!
Die erste Zeit bei Ihrer Band „Jupiter Jones“ waren Sie frei von der Angststörung. Später sind Sie mit der Erkrankung auf die Bühne gegangen. Wie haben Sie das geschafft?
Gerade davor hätten ja viele Leute Angst.Das habe ich mich ehrlich gesagt auch lange gefragt. Ich habe zwischenzeitlich, mit Ende 20, nochmal bei meinem Papa gewohnt und der hat alles für mich erledigt: Einkaufen, Behördengänge. Der hatte Vollmachten für alles, weil ich es selber nicht mehr konnte. Und wenn man dann am Wochenende mit Freunden in einen Bus steigt und aus diesem widerlichen Alltag rausrutschen kann in eine Sache, die einem Spaß macht, dann ist das schön. Eine Zeit lang war es ein Anker, auf die Bühne zu gehen, aber irgendwann hat es sich auch da eingeschlichen und da wusste ich, dass ich Hilfe brauche.
Anfang 2014 haben Sie sich aus der Band zurückgezogen. In welchem Moment haben Sie gemerkt: Es geht nicht mehr?
Ich konnte nicht mehr beides auf einmal. Ich konnte nicht mit der einen Hirnhälfte der Frontmann sein, der die Leute unterhält, und mit der anderen darüber nachdenken, ob ich jetzt sterbe oder nicht. Ich wusste, dass ich für die Genesung Zeit brauche. Und mit der Erkenntnis ist einher gegangen, dass ich dann nicht mehr in der Band sein kann, denn das braucht unheimlich viel Zeit, gerade in Zeiten wie diesen, in denen es elf Millionen Bands gibt und ständig irgendwo etwas neues aufploppt. Wenn man davon leben will, ist man sieben Tage die Woche im Dienst. ´
Sie sind von Anfang an sehr offensiv mit der ganzen Thematik umgegangen. Jetzt haben Sie sogar ein Buch über Ihre Angststörung geschrieben. Das hätten viele bestimmt anders gemacht. Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden?
Weil ich gemerkt habe, wie sehr Scham viele Menschen davon abhält, sich helfen zu lassen. Wie normal es ist, eine Angststörung zu haben, muss man erstmal rausfinden. Es gibt zehn Millionen Angstkranke in Deutschland plus Dunkelziffer. Deswegen ist Aufklärung wichtig. Und ich glaube, ich habe es geschafft, in dem Buch keinen Seelen-Striptease zu machen, aber gleichzeitig klarzustellen, dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen. Ich habe nicht das Bedürfnis, mich deswegen zu verstecken. Und wenn das bei anderen Leuten bewirkt, dass sie sich auch nicht länger verstecken wollen, dann war das Anlass genug.
Sie haben Ihr Buch „Ich bin mal eben wieder tot“ genannt. Warum?
Weil sich so eine Panikattacke immer anfühlt wie Sterben. Ich sage das immer so lax, aber es ist wahr: Ich hatte mehr als tausend Panikattacken. Das hat sich über zehn Jahre gezogen und manchmal hatte ich drei Attacken am Tag. Und jedes Mal hat es sich aufs Neue angefühlt wie Sterben. Ich war wirklich der Überzeugung: Jetzt hat es mich erwischt. Gleichzeitig wollte ich dem Thema mit diesem Titel auch das Besondere nehmen. Ich möchte es gerne in die Normalität hieven.
Wie sind Sie denn nach dem Rückzug von „Jupiter Jones“ weiter vorgegangen? Und was war – rückblickend – die sinnvollste Therapie für Sie?
Angst ist ein Lernprozess. Irgendwann wird die Angst zum Alltag – und das ist nicht schön. Aber es bedeutet auch, dass man Angst wieder verlernen kann. Mir hat die Verhaltenstherapie am besten geholfen. Ich hatte in der Klinik Einzelgespräche – und zwar dreimal die Woche. Das war zwar unfassbar anstrengend, aber auch ein großes Glück. Ich war zu Anfang meiner Erkrankung nämlich mal für einige Wochen in einer Tagesklinik, aber das hat mir nicht geholfen. Das lag allein daran, dass es zu wenig Personal für zu viele Patienten gab. In vielen Kliniken fehlen einfach die Ressourcen, aber die muss das Gesundheitssystem schaffen. Ich verstehe nicht, warum zwischen Körper und Seele so große Unterschiede gemacht werden. In unserer Gesellschaft steht doch jedem Menschen ein Arzt zur Verfügung – warum nicht auch ein Therapeut? Ich weiß natürlich, dass es körperliche Probleme gibt, die schnell und akut behandelt werden müssen, aber auf lange Sicht macht eine kranke Seele genauso fertig wie ein kranker Köper. Im Gesundheitssystem muss sich dringend etwas ändern.
Heißt das, Sie haben Ihre Erkrankung „nur“ mit Gesprächen in den Griff bekommen?
Nein, wie bei jeder Panik oder Phobie gehörte auch Konfrontation dazu. Aber die war Teil des Klinikalltags. Ich hatte zum Beispiel immer Angst, eine Erkrankung am Herzen zu haben und musste ständig meinen Blutdruck messen. In den ersten ein oder zwei Wochen wurde das auch noch gemacht, wenn ich darum gebeten habe. Aber irgendwann haben die Pfleger gesagt: Herr Müller, Sie wissen ganz genau, dass Ihr Herz gesund ist, wir messen hier nichts. Sie werden nicht sterben. Das ist natürlich erstmal eine Ansage. Am Anfang ist man sauer. Aber in Wirklichkeit ist es genau das, was man braucht: sich der Sache zu stellen. Ich vergleiche Angst gerne mit einer Person, die enorm viel Aufmerksamkeit will. Aber wenn man der Angst diese Aufmerksamkeit entzieht, dann ist sie so genervt, dass sie irgendwann geht. Trotzdem finde ich persönlich es wichtig, dass eine solche Konfrontationstherapie von Gesprächen begleitet wird. Man muss ja verstehen, warum man das alles macht.
Das mit der Musik können Sie nicht lassen: Nur ein Jahr, nachdem Sie Jupiter Jones verlassen hatten, haben Sie die Band „Von Brücken“ gegründet. Ist Musik für Sie auch eine Art Therapie?
Ja, wenn ich einen Song schreibe, kann ich Dinge verarbeiten. Generell finde ich: Musik hilft immer. Wenn man sie bewusst wahrnimmt, und da ist es egal, ob das jetzt Schlager, Elektro oder Indie ist, kann Musik Therapie sein. Aber ich glaube, das hat mir nicht mehr oder weniger geholfen als anderen Menschen. Ich habe mich damit nicht gesund geschrieben. Dafür hat es doch mehr gebraucht.
In einem Ihrer neuen Lieder, „Lady Angst“, singen Sie: „Ich nehm' meine Dämonen bei der Hand“. Kann man eine Angststörung jemals wirklich besiegen – oder lernt man nur, mit ihr zu leben?
Ich glaube, man lernt mit ihr zu leben. Aber da können wir gerne in 50 Jahren noch mal drüber sprechen. Ich kann das jetzt nicht sagen. Ja, es gibt Leute, die hatten nie wieder eine Panikattacke. Und ja, ich hatte nach meiner Therapie die eine oder andere. Trotzdem fühle ich mich gesund. Wichtig ist, dass man wieder in einem normalen Leben ankommt und lernt, mit der Angst umzugehen. Für mich ist sie sowas wie eine Narbe: Hin und wieder juckt es, aber das bedeutet nicht, dass die Operation noch mal gemacht werden muss. Es ist keine Niederlage, wenn die Angst mal wiederkommt. Denn eine Attacke bedeutet nicht, wieder angstkrank zu sein. Die Angst ist ein Begleiter, aber ich beherrsche sie.