- Professor Harald Rau warnt vor einem rein virologischen Blick auf die Pandemie.
- Thorsten Moeck sprach mit ihm über Virusmutationen und Schnelltests in Schulen.
Die Inzidenzzahl in Köln hat am Montag die 100 überschritten. Welche Schlüsse hat der Krisenstab hieraus gezogen?
Wir haben uns die Entwicklungen in Deutschland und der Region angeschaut, aber auch bei uns. Die Entwicklung ist besorgniserregend, keine Frage.
Wir alle haben ein Jahr lang gelernt, auf die Inzidenzzahlen zu schauen. Jetzt rät das Gesundheitsministerium zu mehr Entspannung. Zu Recht?
Die Sterberate in Köln sinkt, auch in den Heimen gibt es weniger Todesfälle in Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Aber ein Blick in die Krankenhäuser zeigt, dass die Situation dort noch immer sehr angespannt ist. Gestern lag die Verfügbarkeit der freien Intensivbetten bei sechs Prozent. 67 Corona-Patienten müssen in den Kölner Krankenhäusern derzeit intensivmedizinisch betreut werden. Das medizinische Personal arbeitet seit Monaten am Limit oder schon darüber.
Zur Person
Prof. Harald Rau (59) ist vom Stadtrat vor fünf Jahren zum Sozialdezernentengewählt worden. Rau stammt aus Baden-Württemberg und hat in Tübingen Psychologie studiert. In Köln ist er zuständig für Soziales, Integration und Umwelt. (tho)
Aber es gibt nun weniger Impfstoff für Köln.
Wir könnten, wenn wir die Impfdosen hätten, viel mehr Menschen impfen. Dass es jetzt auch in Deutschland einen vorläufigen Impfstop für Astrazeneca gibt, wird den Impfprozess zusätzlich verlangsamen. Damit fällt rund die Hälfte der Impfungen im Impfzentrum weg. Dort könnten wir jetzt schon 5000 Menschen täglich impfen, das ist ohne weiteres ausbaubar auf mindestens 7500. Und mit einem Impfstoff wie Astrazeneca könnten auch in den Arztpraxen viele Menschen geimpft werden. Wenn wir genügend Impfdosen hätten, würden wir bis Sommer die für die Herdenimmunität erforderlichen 800 000 Menschen immunisiert haben.
Auch in Köln steigt bei den Infektionsfällen der Anteil der britischen Virusmutation. Das dürfte Anlass zur Sorge bieten.
Ja, das beunruhigt uns durchaus. Aber die Frage ist, welche Kennwerte uns Orientierung für unser Handeln bieten. Die Inzidenz und der Anteil der Mutanten entwickeln sich bedrohlich, andererseits die Todesfälle eher günstig. Wir dürfen nicht nur die virusbezogene Gesundheit der Menschen im Blick haben, sondern auch die biopsychosoziale Gesundheit und das Funktionieren unserer Stadtgesellschaft.
Aber: Wir wissen nicht, wie die Entwicklung bei den Virus-Mutationen sein wird, deshalb sind wir alarmiert. Das Robert-Koch-Institut sieht uns schon am Anfang einer dritten Welle, getrieben von Virus-Mutationen. Das nehmen wir im Krisenstab ernst.
Mit welchem Ergebnis?
Wir stellen fest, dass immer mehr Menschen, die Bundesregierung und auch unsere Landesregierung strenge Restriktionen nicht mehr unter allen Umständen erzwingen wollen. Wir müssen jetzt in dieser Situation ganz besonders intensiv auf die Möglichkeiten der Schnelltests setzen, mit denen wir auch asymptomatische Infektionen erkennen, also Menschen, die infiziert sind, aber keine Symptome aufweisen und trotzdem die Infektion weitergeben können. Neben einer Intensivierung unserer Testaktivitäten müssen wir alle ganz konsequent alle Hygieneregeln einhalten. Andere Alternativen gibt es nicht, solange wir nicht großflächig geimpft sind und nicht noch restriktiver sein wollen.
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Die Gesamtsituation ist derzeit unübersichtlich und vielleicht auch schwer nachvollziehbar, weil sie eher willkürlich wirkt. Die Zahlen steigen, die Schulen öffnen.
Der rein virologische Blick ist zu verkürzt. Wir sind gehalten, eine Güterabwägung zu treffen und neben dem Infektionsrisiko für die Stadtgesellschaft auch das Handeln der Menschen in ihren psychosozialen Bezügen zu betrachten. Vor allem Kinder und alte Menschen leiden nachweislich stark unter den Restriktionen. Der Schulausfall wird bei einigen Kindern lebenslang Spuren hinterlassen.
Die Schulen sollen jetzt mit Schnelltests beliefert werden. Und jetzt? Ziehen alle Kinder gemeinsam die Masken aus und testen sich selbst?
Angestrebt werden Tests in der Schule, aber es gibt auch unsererseits viele Fragen. Auch im Krisenstab schielen wir auf die Ausführungshinweise der zuständigen Landesministerien.
Wie stark spüren sie die Auswirkungen vor allem bei Familien in sozial schwierigerem Umfeld?
Wir sehen vor allem die steigenden Zahlen im Jobcenter und in der Arbeitsagentur. Wenn Familien plötzlich ohne Einkommen dastehen, bedeutet das wiederum psychosoziale Auswirkungen. Vieles spielt sich sehr verdeckt ab, das lässt sich für uns nicht sofort erkennen.