Kölner KVB betroffenInterview: Deshalb hat der ÖPNV einen hohen Krankenstand

Lesezeit 7 Minuten
Verschiedene Erkältungsmittel liegen auf einem Tisch. Im Hintergrund liegt jemand im Bett.

Besonders hoch sind die Krankenstände aktuell im ÖPNV. Aber auch andere Branchen kämpfen seit Wochen mit einer großen Zahl kranker Mitarbeiter. Corona ist meist nicht der Grund, sondern andere Atemwegserkrankungen.

Der Arbeitsmediziner Dr. Dennis Nowak erklärt Elena Pintus, warum unter anderem die KVB einen Krankenstand um die 20 Prozent hat – und wie Arbeitgeber die Gesundheit der Mitarbeiter verbessern können. 

Bei diversen Betreibern im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) liegen die Krankenstände aktuell zwischen 15 und 20 Prozent. Können Sie eine Einschätzung geben, warum die Zahlen derzeit so ungewöhnlich hoch sind?

Durch die Kontaktreduzierung während Corona hat das Immun-Gedächtnis zu wenig Updates bekommen. Das ist der Grund, warum viele Infekte stärker reinhauen, als wenn man ständig im Alltag Updates für das Immunsystem bekommt, etwa beim Einkaufen und im Gedränge im Kontakt mit anderen Menschen.

Updates für das Immun-Gedächtnis?

Ja, ich finde das ist eine eingängige Beschreibung. Das Immunsystem aktualisiert sich im Grunde laufend weiter, wenn es in Kontakt mit Erregern kommt.

Der Krankenstand ist überall hoch, aber beim ÖPNV besonders. Wie erklären Sie das?

Zum einen hat zum Beispiel ein Busfahrer wahnsinnig viel Publikumskontakt. Teilweise gab es auch bereits einen Wegfall der Maskenpflicht im ÖPNV. Hinter den Kulissen hat das aber auch etwas mit einer Fehlbelastung der Arbeitnehmer zu tun.

Was ist denn so belastend an den Jobs im ÖPNV, vor allem als Fahrer?

Das ist jetzt ein bisschen kompliziert, aber ich versuche das mal herunterzubrechen. Es gibt im Wesentlichen zwei Modelle in der Arbeitsmedizin und -psychologie, die versuchen, das zu erklären. Das erste ist ein Anstrengung-Belohnungs-Modell. Man gibt seine Arbeitskraft, dafür erhält man Geld, Wertschätzung, Sicherheit. Bei den Fahrern im ÖPNV gibt es relativ hohe Anforderungen: Man muss immer pünktlich sein. Man darf sich keine gravierenden Fahrfehler erlauben. Man muss also relativ konzentriert bleiben und das über acht Stunden. Gleichzeitig ist die Arbeit eher monoton und man hat wenig Aufstiegschancen: Wenn man Busfahrer ist, kann man nicht zum Oberbusfahrer werden.

Häufig hieß es seitens der ÖPNV-Anbieter, als Fahrer sei man ständig der teils aggressiven Stimmung der Fahrgäste ausgesetzt. Ist das auch ein Grund für die Belastung?

Das ist definitiv ein arbeitsmedizinisch sehr wichtiger Punkt: Wertschätzung. Das ist das, was man braucht, um zufrieden mit der Arbeit zu sein. Die Wertschätzung durch die Kunden lässt zu wünschen übrig. Wenn man mal überlegt, erhalten Fahrer im ÖPNV fast gar kein positives Feedback durch die Kunden. Wenn die Bahn pünktlich ist, bedankt sich keiner. Das wird als selbstverständlich angesehen. Aber wenn die Bahn oder der Bus zu spät sind, wer bekommt dann zuerst die Beschwerde? Der Fahrer, beziehungsweise das Bahnpersonal.

Was besagt das zweite Modell?

Im zweiten Modell stehen sich Stress und Entscheidungsspielraum gegenüber. Ein Fahrplan ist stramm getaktet, man kann sich die Pausen null selbst einteilen und auch sonst man hat kaum Spielraum. Der Fahrer kann auch nicht einfach eine andere Strecke fahren. Das macht man einmal und dann nie wieder. Selbst ein Taxifahrer kann meist selbst entscheiden, wann er eine Pause einschiebt oder ob er eine alternative Route fährt. Wer weniger Entscheidungsspielraum auf der Arbeit hat, steckt dem Modell zufolge schlechter Stress weg. Arbeitsausfälle und vermehrte Herz-Kreislauf-Krankheiten und psychische Störungen sind die Folgen.

Denken Sie, die erhöhten Krankenstände sind ein temporäres Problem oder könnten sie uns ab jetzt länger begleiten und warum?

Wenn es wieder ein normales Auf und Ab im Infektionsgeschehen gibt, werden diese Krankheitswellen auch wieder abgeschwächt, denke ich. Aber die genannten Arbeitsstress-Modelle sind übergeordnet und gelten auch außerhalb von Corona-Zeiten.

Gibt es einen „Corona-Effekt“ in dem Sinne, dass viele Menschen während der Pandemie eine Tätigkeit im ÖPNV aufgenommen haben und jetzt mit deutlich mehr Fahrgästen und Verkehr konfrontiert sind?

Ja, definitiv kann das mit reinspielen. Das sind alles noch zusätzliche Belastungen, wenn das Arbeitsumfeld ohnehin herausfordernd ist.

Allgemein: Was ist aus ärztlicher Sicht wichtig für Angestellte, um gesund und möglichst wenig belastend arbeiten zu können?

In meinen Augen zäumt man das Pferd von hinten auf, wenn man sich fragt, was der Beschäftigte tun kann, um gesund zu arbeiten. In den letzten Jahren hat sich dieses Konzept von Eigenverantwortung immer mehr etabliert. Ich halte das für den falschen Ansatz, wenn er alleine steht. Meiner Meinung nach müssen Arbeitgeber sich überlegen, was sie für die Gesundheit der Arbeitnehmer tun können.

Welche Möglichkeiten hat der Arbeitgeber diesbezüglich?

Bei der Dienstplangestaltung kann man zum Beispiel auf Fairness und Mitbestimmung setzen. Das heißt, man sorgt dafür, dass sich im Falle des ÖPNV etwa alle Fahrer gerecht behandelt fühlen, was die Einteilung der Strecken und Zeiten betrifft. Also an einem Tag fährt mal der eine die unbeliebte Zeit spät am Abend, am anderen Tag der andere. Und die Mitarbeiter sollten ein Mitspracherecht bei der Einteilung haben, soweit möglich. Auch wichtig ist die Planbarkeit von Freizeit: Wenn ich frei habe, muss ich auch wirklich frei haben und nicht ständig auf Abruf sein, um etwa für kranke Kollegen einzuspringen. Wenn personelle Reserven durch hohe Krankenstände verschwinden, kann eine Abwärtsspirale entstehen, weil andere Mitarbeiter einspringen müssen und sich nicht erholen können.


Wie hoch sind die Krankenstände unter Arbeitnehmern derzeit?

20 Prozent Krankenstand – das war Anfang des Jahres der Grund für ständige Fahrtausfälle bei den Kölner Verkehrsbetrieben (KVB). Die Geschäftsführung zog die Konsequenz und dünnte den Fahrplan aus. Anfang Februar soll die erste Änderung in Kraft treten, am 1. März wird der Fahrplan noch mal ausgedünnt, weil man nach Karneval eine weitere Erkältungswelle erwartet. Mittlerweile (Stand 27. Januar) sei der Krankenstand leicht unter 20 Prozent gesunken, hieß es.

Auch der Regionalverkehr Köln (RVK) berichtet von einem Krankenstand „über dem in der Jahreszeit typischen Maß“. Fahrtausfälle über das „normale Maß“ hinaus würden durch engagierte Mitarbeiter verhindert. Die Stadtwerke Bonn Verkehrs-GmbH nennen Anfang Januar einen Krankenstand von 16 Prozent. Normal sei etwa die Hälfte. Der Krankenstand bei der Wupsi ist Anfang Januar „nahezu normal“. Wenige Wochen zuvor habe er bei etwa 20 Prozent gelegen.

Deutschlandweit sind die Zahlen ähnlich: Die Münchener Verkehrsgesellschaft nannte Anfang Januar einen Krankenstand zwischen zwölf und 15 Prozent. Der Fahrplan sei ausgedünnt. Die Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg bietet seit Mitte Januar ebenfalls weniger Fahrten an. Auch die Deutsche Bahn gibt an, Anfang Januar einen erhöhten Krankenstand zu verzeichnen.

Zur Personallage im ÖPNV sagt die Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi, es gebe generell zu wenig Fahrer. Unattraktive Zeiten, zu wenig Gehalt und ein potenziell konfliktgeladenes Arbeitsumfeld seien die Gründe. Dadurch steige die Belastung und der Krankenstand der Mitarbeiter.

Auch die Versicherungen geben erhöhte Krankenstände an. Die DAK verzeichnete im dritten Quartal 2022 einen Krankenstand von 4,6 Prozent. Bei der AOK Rheinland/Hamburg lag er Anfang Januar bei 5,52 Prozent.

Im Vergleich: Bei der AOK sei das ein Anstieg von 2,48 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitpunkt (gemessen an allen Versicherten). Bei der DAK entspricht der Wert einem Anstieg von 1,1 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorquartal. Im Dezember teilte die Techniker Krankenkasse mit, der Krankenstand ihrer Versicherten sei in NRW um 28 Prozent höher als im Vergleich zum Vorjahreswert für den Dezember.

Besonders betroffen seien bei den AOK-Versicherten die Branchen Gesundheit und Pflege mit einem Krankenstand von knapp 14 Prozent sowie die Industrie mit knapp 13 Prozent. Die Personenbeförderung habe mit nur knapp zwei Prozent den niedrigsten Krankenstand. Dazu hieß es, die Krankenstände würden anhand der Gesamtzahl der Versicherten gemessen. Es sei möglich, dass wenig Menschen aus der Personenbeförderung bei der AOK versichert seien.

38 Prozent der Krankmeldungen seien bei der AOK verursacht durch Atemwegserkrankungen. Der Verband der Ersatzkassen bestätigt eine Zunahme der Atemwegsinfektionen ohne Corona gegenüber den Vorjahren.

Im Deutz-Werk spüre man den hohen Krankenstand stärker als im vergangenen Jahr, aber verzeichne keine Einschränkungen. Aktuell befinde er sich im einstelligen Prozentbereich. Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei Bayer ab. Bisher wirkten sich die Krankenstände aber nicht auf den Betrieb aus.

Keinen erhöhten Krankenstand vermeldete auf Anfrage nur die Flughafen Köln/Bonn GmbH: „Wir haben keine gehäuften Krankmeldungen in den einzelnen Abteilungen.“ Das beziehe sich aber nur auf Angestellte der Flughafen GmbH, nicht etwa auf das Sicherheitspersonal. Zur Situation der Sicherheitsleute äußert sich die Verdi: „Wir haben das ganze Jahr über deutlich höhere Krankenstände als in anderen Branchen. Wir sprechen hier von durchschnittlich 20, im Sommer teils 30 Prozent.“ Das liege an wenig Personal sowie einer belastenden, stehenden Tätigkeit. (enp)


Zur Person

Dr. Dennis Nowak ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin sowie Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. 

Rundschau abonnieren