Interview mit Autor Nobert Scheuer„Auf dem Land ist man während der Pandemie freier“

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Norbert Scheuer

Norbert Scheuer

  • Der Schriftsteller Norbert Scheuer wird am Donnerstag 70 Jahre alt.
  • Joachim Heinz sprach mit ihm über die Eifel und den Reiz von Dialekten, aber auch über die verheerenden Auswirkungen der Flut im Sommer.

In der Corona-Pandemie träumen viele Städter vom Leben auf dem Land. Wie blicken Sie auf dieses Phänomen als einer, der in der „Provinz“ zuhause ist?

Im Grunde genommen gibt es diesen Unterschied zwischen Stadt und Land ja nur noch auf dem Papier. Wir haben vielleicht ein bisschen mehr Landschaft. Aber selbst unsere Tiere – Füchse oder Wildschweine – entdecken inzwischen die Städte für sich.

Es geht auch umgekehrt, vom Land in die Stadt...

Zur Person

Geboren wurde Norbert Scheuer am 16. Dezember 1951 in Prüm. Der Sohn eines Gastwirtpaares absolvierte eine Lehre als Elektriker, studierte zudem Physikalische Technik und Philosophie. Bis 2017 arbeitete Scheuer als Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören der US-Romancier William Faulkner (1897-1962) und der Lyriker Hans Bender (1919-2015).

Scheuers 2005 erschienener Episodenroman „Kall, Eifel“ spielt an auf ein Werk des US-Schriftstellers Sherwood Anderson (1876-1941): „Winesburg, Ohio“. Sein Roman „Winterbienen“ erzählt die Geschichte eines Imkers, der sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Verkauf von Honig über Wasser hält und Flüchtlinge in Bienenstöcken versteckt über die Grenzen nach Belgien bringt. (kna)

Ich selbst fahre regelmäßig nach Köln oder Bonn. Das ist sozusagen meine Auszeit vom Landleben. Allerdings haben sich die Städte seit Corona verändert. Deswegen sehne ich mich eher nach der Stadt von früher. Auf dem Land ist man während der Pandemie freier unterwegs.

Das wissen wiederum Städter zu schätzen.

Beim Wandern sieht man plötzlich junge Leute. Das finde ich schön. Mitunter begegnen einem aber auch skurrile Gestalten, die selbst in der freien Natur mit Maske herumlaufen – und diese dann nicht selten am Wegesrand entsorgen. Das ist eher befremdlich. Seit der Flutkatastrophe kommen allerdings nur noch wenige Menschen hierher. Davor dachte ich immer wieder mal: Die Eifel hat jetzt eine große Chance, weil mehr und mehr Touristen sie für sich entdecken. Doch das hat die Überschwemmung zunichte gemacht. Teile der Eifel sind ins 19. Jahrhundert zurückgefallen.

Wie würden Sie die Atmosphäre in ihrem Wohnort Kall beschreiben?

Kall kommt einem vor wie eine verlassene Goldgräberstadt. Es gibt kein Café mehr, keine Einkaufspassagen, alles ist geschlossen. Auch Verkehrsverbindungen sind unterbrochen. Die Buchhandlung macht demnächst wieder auf – als bislang einziges Geschäft!

Ein Hoffnungszeichen?

Ich glaube schon, dass die Menschen wieder Hoffnung schöpfen. Allein schon, weil die Betroffenen sehr viel Hilfe erfahren haben.

Aber?

Diese Hilfe bringt kein Lebenswerk zurück. Jemand, der 60 ist und ein kleines Geschäft in der Einkaufspassage hatte, der überlegt sich jetzt: Kann ich das jemals wieder aufbauen? Die Stimmung ist lethargischer als unmittelbar nach der Katastrophe. Da waren die Menschen mit so vielen Dingen beschäftigt, dass sie überhaupt nicht dazu gekommen sind, über ihre Situation nachzudenken. Jetzt stellt sich vielen von ihnen die Frage: Wie geht das Leben weiter?

Was kann in solchen existenziellen Notlagen helfen – Religion, Philosophie, Literatur vielleicht?

Selbst die simpelsten Sachen – wenn man zum Beispiel dem Flug der Vögel zusieht – können zum Anker werden, der das Elend vergessen lässt, das sich um einen herum ereignet. So eine Funktion hat auch die Literatur. Für andere mag es die Philosophie oder auch Religion sein oder irgendeine andere Sache, die das Leben auszufüllen vermag und ihm Sinn gibt. Im Grunde handeln alle meine Romane von Menschen, die nach irgendeinem Sinn in ihrem Leben suchen.

Die Eifel ist, wenngleich literarisch bearbeitet, Ausgangspunkt all ihrer Romane und Erzählungen – warum?

Man kann nicht einfach eine Geschichte schreiben, ohne Bilder im Kopf zu haben. Da ich in der Eifel aufgewachsen bin, zehre ich von ganz vielen Erlebnissen, die sich mit der Eifel verbinden. Insofern bin ich sehr durch die Eifel beeinflusst, sie prägt mich. Vom „normalen“ Eifler unterscheidet mich aber, dass ich nicht dörflich sozialisiert bin.

Was genau meinen Sie damit?

Meine Eltern stammen aus Prüm und hatten dort eine Konditorei und eine Gaststätte. Die mussten sie ein paar Jahre nach meiner Geburt aufgeben. Sie haben dann in verschiedenen Eifeldörfern immer wieder andere Gaststätten gepachtet.

Im Alter zwischen fünf und 17 habe ich sicherlich sechs- oder siebenmal meinen Wohnort gewechselt. Wenn man ein Kind ist, kommt einem die Fahrt von einem Dorf zum anderen wie eine Weltreise vor. Deswegen stelle ich mir vor, dass ich als Kind und Jugendlicher so eine Art Weltreisender war, fast wie ein Diplomatensohn, der ganz viele verschiedene Orte kennengelernt, aber zu keinem dieser Orte eine emotionale Bindung entwickelt hat.

In Ihren Büchern ist Sprache Kunst – in unserem Alltag wird Sprache nach Ansicht von Kritikern dagegen oftmals verhunzt. Anglizismen, falsche Konjunktive, Gendern lauten einige Stichworte. Wie stehen Sie dazu?

Das Gendern blende ich etwas aus, das nehme ich nicht wirklich ernst. Aber grundsätzlich blicke ich positiv auf die Alltagssprache. Literarische Texte leben davon. Die Eifel ist geprägt durch ganz viele Dialekte. Das ist doch etwas ganz Wunderbares: Man kehrt aus der Stadt ins Dorf zurück, trifft alte Freund und fängt an, Dialekt zu reden.

Das können allerdings nur noch die wenigsten.

Das finde ich äußerst schade. Dialekte sind viel lyrischer als die Umgangssprache, viel präziser. Sich auf das Wesentliche zu beziehen, habe ich daraus gelernt – auch wenn ich selbst keine Dialekte spreche. Aber ich verstehe sie. (kna)

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