Ex-Bild-ChefCausa Reichelt liefert Munition für Verfechter der „Lügenpresse“

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Julian Reichelt

Julian Reichelt 

Köln – Ein Chef soll junge, ihm hierarchisch unterstellte Frauen zum Sex überredet, Privates mit Beruflichem vermischt und generell seine Macht missbraucht haben: Das war im Frühjahr der Kern des Compliance-Verfahrens gegen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Damals war das Verfahren beendet worden mit der Begründung, die Vorwürfe seien strafrechtlich nicht relevant. Reichelt hatte sich entschuldigt, aber nichts geändert. Deshalb konnte ihn Mathias Döpfner, Chef des Axel-Springer-Verlags und damit Herausgeber der „Bild“, nicht mehr halten und hat ihn von seinem Posten „entbunden“, wie es so verniedlichend heißt. Denn in Wirklichkeit soll Reichelt junge Kolleginnen verführt und anschließend unter Druck gesetzt haben. Stimmt zudem tatsächlich, was der „Spiegel“ über die Vorgänge in der „Bild“-Redaktion schreibt, ist das ein Skandal – weil es offenbart, wie Reichelts mutmaßliches Fehlverhalten zwar ein offenes Geheimnis war, Hinweise aber von der Unternehmensleitung ignoriert worden waren und im Gegenteil offenbar bis zuletzt versucht wurde, Reichelt zu decken.

Ippen stoppte eine Geschichte über die Causa Reichelt

Das hat gar nichts mit einem System „Bild“ oder System „Springer“ zu tun: Machtmissbrauch, Wegsehen und Vertuschen kann sich in jedem Unternehmen dieser Welt genauso abspielen. Umso surrealer mutet es an, was dem Rauswurf vorausgegangen ist: Hier tut sich ein weiterer, mindestens ebenso großer Skandal auf. Zu verantworten haben ihn der Zeitungsverleger Dirk Ippen – und Döpfner: Ippen, weil er eine Geschichte über die Causa Reichelt gestoppt hat, Döpfner, weil er sich so lange schützend vor Reichelt gestellt hat und weil er in jetzt veröffentlichen Aussagen ein, gelinde gesagt, merkwürdiges Verständnis von Demokratie und der deutschen Medienlandschaft an den Tag legt.

Dabei sind Döpfner seine Amerika-Ambitionen zum Verhängnis geworden. Gerade versucht er, sich dort mit der Mediengruppe „Politico“ zu positionieren, und ist damit der „New York Times“ vors Visier gelaufen. Bei seinen Recherchen ist Autor Ben Smith auf eine Kurznachricht an Benjamin von Stuckrad-Barre gestoßen, in der Döpfner die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung mit dem DDR-Staat vergleicht und Reichelt als letzten aufrechten deutschen Journalisten bezeichnet. Döpfner – New York Times – Stuckrad-Barre? In einer Netflix-Serie wäre das ein lustiger, aber irgendwie bizarr-unwahrscheinlicher Kniff.

Döpfners Festhalten an Reichelt bedrohte USA-Ambitionen

Alles andere als lustig ist , was Smith noch aufgedeckt hat, nämlich was das Compliance-Verfahren gegen Reichelt ausgelöst hat und wie es beendet wurde. Hier versteht die US-Gesellschaft keinen Spaß – die #MeToo-Debatte wird dort heftiger geführt als bei uns. Mit seinem Festhalten an Reichelt hat Döpfner seine Übersee-Ambitionen in Gefahr gebracht – und sein DDR-Vergleich irritiert zumindest. Zumal Döpfner auch noch dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) vorsteht. Spannend wird sein, wie sich der Branchen-Dachverband äußert: Denn der Fall beschädigt den Journalismus in Deutschland an sich.

Hier kommt Ippen ins Spiel: Er hat als Verleger ins journalistische Geschäft eingegriffen. Dabei gehört die Trennung von Herausgeberinteressen – wirtschaftlichen wie inhaltlichen – und denen der Redaktion zu den konstituierenden Merkmalen eines unabhängigen Journalismus. Freilich hat Ippen Gründe: Er wollte, vereinfacht gesagt, nicht die Krähe sein, die dem Springer-Konzern ein Auge aushackt. Wie wir wissen, hat das nicht funktioniert.

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Stattdessen gefährdet sein Eingriff die Pressefreiheit und munitioniert gleichzeitig diejenigen, die unablässig von „Lügenpresse“ sprechen. Dem Journalismus hat er damit einen Bärendienst erwiesen. Stellen wir uns vor, zwischen VW und Mercedes wären geheime Absprachen öffentlich geworden: Mit Wonne, aber eben auch mit journalistischer Selbstverständlichkeit stürzte sich die Presse auf einen solchen Skandal. Geht es aber um die eigene Branche, soll stilles Einvernehmen herrschen? Das ist schwer zu vermitteln. Deshalb haben Döpfner und Ippen dem Journalismus noch mehr Schaden zugefügt als Reichelt.

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