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Analyse zur Lage im KriegAlle Zeichen stehen in der Ukraine auf Zermürbungskrieg

Lesezeit 6 Minuten
02.01.2023, Ukraine, Kiew: Zwei Männer stehen neben Gebäuden, die bei einem Angriff beschädigt wurden.

Kiew: Zwei Männer stehen neben Gebäuden, die bei einem Angriff beschädigt wurden.

Russlands Angriff stockt, aber auch die Ukraine kommt auf dem Boden kaum voran. Welche Szenarien gibt es und könnte es eine schnelle Entscheidung geben? Eine Analyse zur aktuellen Lage im russisch-ukrainischen Krieg

Post von Dmitri Rogosin: Der russische Rechtsextremist, einst Chef der Raumfahrtbehörde Roskosmos und nun Militärberater im russisch besetzten Teil des Donbass, hat dem französischen Botschafter in Moskau nach eigener Darstellung einen Granatsplitter geschickt, der aus seiner Halswirbelsäule herausoperiert wurde. Verbunden mit Klagen über ukrainische „Terroristen“ und ihre französischen Unterstützer. Denn abgefeuert wurde das Geschoss am 22. Dezember aus einer von Frankreich gelieferten Caesar-Haubitze, und es traf den selbst ernannten „Zarenwolf“ Rogosin samt Entourage bei der Feier seines 59. Geburtstags im besetzten Donezk.

Welche Szenarien gibt es im Krieg?

Der Fall Rogosin zeigt: Der Eindruck vom für beide Seiten praktisch aussichtslosen Stellungskrieg täuscht. Auch wenn es im Frontverlauf wenige Veränderungen gibt – der Ukraine gelingen immer wieder spektakuläre Schläge. Im Fall Rogosin stand eine Gruppe von Funktionären im Fokus. Andere Angriffe treffen russische Truppenansammlungen, etwa in Makijiwka bei Donezk, oder russische Militärflugplätze, zuletzt Dschankoi auf der okkupierten Krim.

Derzeit ist der Winter auch in der Ukraine mild. Die Böden sind nicht durchgefroren, der Matsch bremst Operationen beider Seiten auch unabhängig von der von Russland ausgerufenen Kurz-Waffenruhe zum orthodoxen Weihnachtsfest. Kommende Woche soll es kälter werden. Was passiert dann? Und was im Frühjahr? Zum Jahreswechsel haben Analysten unübersehbar viele Szenarien skizziert, allein die BBC bat fünf Experten um ihre Prognose. Letzten Endes läuft es auf drei mögliche Grundannahmen hinaus, die der US-Analyst Michael Kofman lapidar skizzierte: schneller Sieg der Ukraine, ein chneller Sieg Russlands oder langwieriger Abnutzungskrieg.

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Ist eine schnelle Entscheidung denkbar?

Ein russischer Kantersieg ist das am wenigsten wahrscheinliche Szenario. Selbst bei der Stadt Bachmut, dem einzigen Gebiet, wo die Angreifer zuletzt noch die Initiative hatten, sind ihre Aussichten geschwunden. Alle zehn Meter treffe man auf ukrainischen Widerstand, hat Jewgeni Prigoschin, der Chef der Söldnergruppe Wagner, jüngst erklärt, und es fehle an Fahrzeugen und Munition. Dabei war er es, der den Angriff auf die strategisch mittelmäßig bedeutsame Stadt vorangetrieben hat – und nun versucht, dem regulären Militär die Verantwortung für die hohen Verluste zuzuschieben.

Zwar hat der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj eingeräumt, dass die schiere Zahl der neu mobilisierten russischen Soldaten der Ukraine Schwierigkeiten bereitet. Ihre Kampfkraft, das betont der britische Militärgeheimdienst, ist aber nicht mit der erfahrener Truppen zu vergleichen. Ob Russland in der Lage wäre, eine neue Großoffensive etwa von weißrussischem Gebiet aus zu starten, ist fraglich.

Die Ukraine andererseits hat gut vier Monate gebraucht, um das überschaubare Gebiet um Cherson zu befreien. Nach der Charkiw-Offensive vom September dauerte es ein Vierteljahr, bis die Ukrainer weitere zehn bis zwanzig Kilometer nach Osten vorgedrungen waren und die Straße Nr. 66, zuvor eine wichtige russische Nachschubroute, teilweise sichern konnten. Sie könnten nun die Kleinstädte Swatowe und Kreminna befreien, den Ballungsraum Sjewjerodonezk/Lyssytschansk in die Zange nehmen oder russische Nachschublinien tiefer im Bezirk Luhansk kappen. Das nähme Druck von Bachmut.

Nur: Die Entscheidung im Krieg müsste an ganz anderer Stelle fallen. Im Süden des Landes müsste die Ukraine die von Russland eroberte Landverbindung zur Krim unterbrechen. Dann wären die verschiedenen Truppenteile der Angreifer voneinander isoliert. Dazu wäre aber ein mindestens 90 Kilometer tiefer ukrainischer Vorstoß nötig. Bis Ende August könne die Ukraine sogar die Krim zurückerobern, hatte der frühere US-General Ben Hodges der BBC gesagt. Kann und will die Ukraine mit so hohem Tempo vorgehen?

Zwar hat Kyrylo Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, für das Frühjahr Offensiven an allen Fronten angekündigt. Aber die Befreiung von Cherson lehrt: Die Ukraine setzt nicht auf große Panzerschlachten und Kämpfe um Stadtzentren. Ihr Ansatz ist indirekt. Der australische Ex-General Mick Ryan hat das als Strategie der Korrosion beschrieben – es gehe darum, den Gegner „physisch, moralisch und intellektuell“ zu zermürben. Dabei helfen Angriffe hinter der gegnerischen Frontlinie, zuletzt etwa bei Tokmak im Bezirk Saporischja. Die Stadt gilt als mögliches Etappenziel einer späteren ukrainischen Südoffensive.

Von Kofmans drei Alternativen ist der Zermürbungskrieg also die wahrscheinlichste. Der frühere deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse glaubt, Moskaus Nachschubschwierigkeiten könnten im Sommer so groß werden, dass man ernsthaft zu einem Waffenstillstand bereit sei (derzeit stellt der Kreml ja bewusst unerfüllbare Forderungen). Andere Fachleute wie Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik erwarten 2023 noch kein Kriegsende.

Reichen die Ressourcen  der Kriegsparteien?

Jedenfalls wird die Frage des Nachschubs umso wichtiger, je länger der Zermürbungskrieg dauert. „Der Munitionsverbrauch der Ukraine ist an einem einzigen Tag höher, als mehrere europäische Staaten zusammen in einem Monat produzieren“, so Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz auf Twitter. Aber auch die Reserven der Angreifer schwinden. Lange: „Russland feuert derzeit bis zu 20000 Schuss am Tag. Während der ,Feuerwalze‘ von April bis Juni 2022 waren es 60000 Schuss täglich.“ Kriegsentscheidend wird, wer wie viel produzieren oder zukaufen kann.

Die Ukraine verwendet viele von Russland erbeutete Waffen aus der Charkiw-Offensive. So ein Coup wird sich nicht wiederholen. Aufwendig ist auch das – zunehmend effektive – Abfangen russischer Marschflugkörper und Drohnen. Dazu, so Kofman in der „New York Times“, setzt Kiew „einen ganzen Zoo von Luftabwehrsystemen“ ein – vom Gepard-Panzer bis zur Abfangrakete. Für Raketen des alten sowjetischen S-300-Systems werden je gut 130 000 Euro fällig, für moderne westliche (Iris-T, Nasams) 400 000 bis 500 000.

Die Menschenleben, die solche Raketen retten, und die materiellen Schäden, die sie verhindern, sind jeden Preis wert. Aber die westlichen Partner müssen ihn bezahlen. Andererseits ist Russland zwar trotz der westlichen Sanktionen in der Lage, mit Mikrochips aus dunklen Quellen Raketen und Marschflugkörper zu bauen. Trotzdem hat der Einsatz von Präzisionswaffen nachgelassen: Auch Wladimir Putins Leute müssen mit ihrem Arsenal haushalten.

Der russische Staatschef setzt darauf, dass dem Westen die Hilfe für die Ukraine zu teuer wird. Andererseits warf der Londoner Russland-Forscher Samuel Greene die Frage auf, wie viel Putin seinem Volk noch zumuten kann. Kürzt er Sozialausgaben? Startet er eine neue Rekrutierungswelle? Welche Lasten erlegt er der Mittelschicht auf?

Hinzu kommt die psychologische Ebene: Der ukrainische Raketenschlag in Makijiwka etwa war so massiv, dass es dem Kreml kaum gelingt, die Diskussion über den Umgang der Militärführung mit dem Leben russischer Soldaten in den Griff zu bekommen. Möglicherweise soll die auf Wunsch der orthodoxen Kirche ausgerufene Waffenruhe zum russischen Weihnachtsfest diese Debatte beruhigen – und natürlich dem Westen imponieren. Dort stilisieren sich die Angreifer gern als Opfer. Manchmal erzeugt das Resonanz, aber nicht immer, wie Dmitri Rogosin sehen musste: Am Abend des Tages, an dem er seinen Klagebrief veröffentlichte, entschloss Frankreich sich zur Lieferung von Radpanzern an Kiew.

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