Attentat bei MoskauPutin schlug Warnungen in den Wind – und spricht jetzt über die Ukraine

Lesezeit 8 Minuten
In this photo taken from video released by Russian Emergency Ministry Press Service on Sunday, March 24, 2024, rescuers work in the burned concert hall after a terrorists attack on the building of the Crocus City Hall on the western edge of Moscow, Russia. Russia's top state investigative agency says the death toll in the Moscow concert hall attack has risen to 133. The attack Friday on Crocus City Hall, a sprawling mall and concert venue on Moscow's western edge, also left many wounded and left the building a smoldering ruin. (Russian Emergency Ministry Press Service via AP)

Bergungsarbeiten in der zerstörten „Crocus“-Halle. Das Videobild wurde von der russischen Regierung veröffentlicht.

Warum schweigt Wladimir Putin über den „Islamischen Staat" als mutmaßlichen Urheber des Anschlags in der „Crocus“-Halle? Gibt es Verbindungen zur Bedrohungslage am Kölner Dom um den Jahreswechsel? Und was hat das alles mit der Ukraine zu tun?

Der Terroranschlag bei Moskau mit 133 Toten hat die russische Regierung offenbar unvorbereitet getroffen – obwohl es Warnungen gab. 19 Stunden brauchte der russische Staatschef Wladimir Putin, um zu reagieren. Und die russischen Reaktionen werfen neue Fragen auf.

Was wissen wir über den Ablauf des Anschlags?

Am Freitagabend, kurz vor dem geplanten Beginn eines Rockkonzerts der Band „Piknik“, drangen mehrere – nach Angaben des russischen Innenministeriums vier – bewaffnete Angreifer in das Veranstaltungszentrum „Crocus City Hall“ in der Moskauer Vorstadt Krasnogorsk ein und schossen in die Menge der Zuschauer. Die Halle hat eine maximale Kapazität von gut 7000 Zuschauern (zum Vergleich: Die Lanxess-Arena in Köln kann bis zu 20 000 Gäste aufnehmen). Geplant war ein Konzert der schon zu Sowjetzeiten beliebten Band „Piknik“. Sehr schnell gerieten von den Zuschauern aufgenommene Handyvideos in Umlauf.

Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Ria warfen die Angreifer auch eine Granate oder eine Brandbombe, laut staatlichem Ermittlungskomitee legten sie mit einer brennbaren Flüssigkeit Feuer. Jedenfalls brannte die Konzerthalle aus. Nach Angaben des Ermittlungskomitees kamen 133 Menschen ums Leben, darunter drei Kinder. Es gab wohl mehr als 100 Verletzte. Den Tätern gelang zunächst die Flucht, allerdings will Russland sie und sieben weitere Personen später im Bezirk Brjansk nahe der ukrainischen Grenze festgenommen haben.

Was spricht für eine Urheberschaft des IS?

Der renommierte Londoner Terrorismusexperte Peter R. Neumann war sich schon am Samstag sehr sicher: Alles spricht für eine Urheberschaft des „Islamischen Staates“. Die Terrororganisation veröffentliche mehrere Selbstbezichtigungen, unter anderem auf ihrem offiziellen Kanal „Amaq“, die offensichtlich authentisch sind. Die Terrororganisation schob immer weiteres Material nach: Auf ein verpixeltes Foto der mutmaßlichen Attentäter folgte ein Actioncam-Video eines der Schützen. Material, das nur von den Tätern selbst stammen kann. Laut einem der IS-Schreiben galt der Anschlag „Tausenden Christen in einer Musikhalle“.

Peter R. Neumann hat mehrfach – auf X, aber auch gegenüber der ARD – einen zentralasiatischen IS-Ableger namens „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) als mutmaßlichen Urheber genannt. Davon gehen auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris und Bundesinnenministerin Nancy Faeser aus. Dazu würde es passen, dass die in Russland Festgenommenen tadschikischer Herkunft sein sollen – auch wenn das nicht bestätigt ist. Zentralasiatische Staaten wie Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan sind das Hauptrekrutierungsgebiet des ISPK.

Diese Gruppe ist auch in Mitteleuropa sattsam bekannt: Um den Jahreswechsel gab es scharfe Sicherheitsmaßnahmen am Kölner Dom und am Wiener Stephansdom, weil Hinweise auf möglicherweise geplante ISPK-Anschläge vorlagen. Es kam zu mehreren Festnahmen, der aus Tadschikistan stammende Verdächtige Mukhammadrajab B. wurde im Februar 2024 aus Köln nach Österreich überstellt. Schon im Sommer 2023 waren sieben Männer aus Tadschikistan und Kirgistan in NRW festgenommen worden – Vorwurf: Gründung einer terroristischen Vereinigung, Ausspähen von möglichen Anschlagszielen. Auch ihnen wird eine Verbindung zum ISPK zur Last gelegt.

Waren die russischen Behörden gewarnt?

Ja. Bereits am 7. März, eine gute Woche vor dem Beginn der russischen Präsidentschaftswahl, warnte die US-Botschaft in Moskau vor einer Gefahr von Anschlägen. Für die nächsten 48 Stunden sollten  US-Bürger große Veranstaltungen meiden. Das Auswärtige Amt in Berlin verschärfte seine Reise- und Sicherheitshinweise und rät seither „dringend“ von Reisen nach Russland ab. Auch weitere westliche Staaten wie Großbritannien und die Niederlande warnten vor Anschlägen. Die russischen Behörden teilten kurz darauf mit, sie hätten eine IS-Terrorzelle ausgehoben. Was immer sie gefunden haben wollen, die Gefahr bestand weiterhin. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die USA ihre Informationen auch mit Russland geteilt. Staatschef Wladimir Putin jedenfalls hat die US-Warnung öffentlich zurückgewiesen: Es handele sich um eine „dreiste Erpressung“ und den Versuch, „unsere Gesellschaft einzuschüchtern und zu destabilisieren“, erklärte er am 19. März laut der Staatsagentur tass. Das Konzert- und Sportleben in der Region Moskau ging unvermindert weiter. Erst nach dem „Crocus“-Anschlag sagte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin alle Großveranstaltungen in der Stadt ab.

Grundsätzlich weisen die USA auch verfeindete Staaten auf geplante terroristische Anschläge hin. So ließen sie auch dem Iran vor den IS-Anschlägen von Kerman Anfang Januar eine Warnung zukommen – bekanntlich ebenso vergeblich wie jetzt im Fall „Crocus“. Dass die USA so handeln, liegt an der selbst auferlegen „Pflicht zum Warnen“ (duty to warn). Den Hintergrund hat Neumann auf X bündig erläutert: Die USA sehen Terrorismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hoffen ferner darauf, im Sinne der Reziprozität auch selbst gewarnt zu werden, und sie haben die gesetzliche Pflicht, eigene Bürger im Ausland zu schützen – der eigentliche Rechtsgrund der „duty to warn“.

Wie reagieren die russischen Behörden?

Ein IS-Terroranschlag, kurz nachdem er eine einschlägige US-Warnung höhnisch zurückgewiesen hatte – für Putins Ansehen ist das desaströs. Das erklärt wohl die lange Wartezeit, bis er sich zu dem Geschehen äußerte. Schon diese offensichtliche Überraschung und die große Mühe, die russische Behörden damit hatten, überhaupt eine Deutung des Geschehens zu entwickeln, dürfte übrigens den Verdacht ausschließen, die russische Führung habe den Anschlag selbst inszeniert, er sei eine Operation unter falscher Flagge gewesen – wie die Anschläge auf russische Wohnhäuser mit 367 Toten, die Putin 1999 zur Begründung des Zweiten Tschetschenienkrieges dienten: Hier gab es Hinweise auf eine Verstrickung des Geheimdienstes FSB. Aber von dem Anschlag bei Moskau hat Putin nicht wirklich einen Vorteil.

Bezeichnenderweise vermied der Diktator es, den IS überhaupt zu erwähnen. Dafür sagte er, die vier Angreifer hätten versucht, in die Ukraine zu fliehen. Nach ersten Erkenntnissen sei dort ein „Fenster“ für ihren Grenzübertritt vorbereitet worden. Auch der FSB hatte zuvor erklärt, die Täter hätten „Kontakte“ in die Ukraine und hätten dorthin fliehen wollen. Putin ging damit aber nicht so weit wie seine Chefpropagandistin Margarita Simonjan, die die Ukraine für den Anschlag verantwortlich machte. Die Täter seien so ausgewählt worden, „dass man eine dumme Weltgemeinschaft davon überzeugen kann, dass es der IS war“, behauptete die Chefredakteurin des Staatsfernsehens RT.

Ist eine ukrainische Spur plausibel?

Russland hat Vernehmungsvideos veröffentlicht. Einer der Verdächtigen gibt an, er habe eine halbe Million Rubel (rund 5000 Euro) für die wahllose Tötung von Menschen versprochen bekommen, aber nur die Hälfte erhalten. Wer soll den Mordauftrag gegeben haben? „Ich weiß nicht.“ Schon die Umstände der Vernehmung zeigen, was von den Ergebnissen zu halten ist: Der angebliche Auftragsmörder kniet vor seinen Befragern, einem anderen wurde das Ohr abgeschnitten, und er wird vor laufender Kamera gezwungen, es zu essen. Ein auf Telegram verbreitetes Foto zeigt einen Festgenommenen, der Stromschläge in die Hoden erhält.

Das alles ist so brutal wie absurd. Russland macht hier gar nicht den Versuch, nachvollziehbare Aussagen zu präsentieren, sondern zeigt, dass seine Vernehmungsbeamten jede beliebige Aussage aus Verdächtigen herausfoltern können. Aber gibt es die von Putin behauptete ukrainische Spur?

Für eine solche Spur gebe es keinerlei Beweise, hat US-Vizepräsidentin Harris betont. Ob die demonstrativ misshandelten Verdächtigen überhaupt die Täter sind, ist unklar. Unabhängig überprüfbare Belege für eine geplante Ausreise in die Ukraine liegen nicht vor. Denkbar ist natürlich trotzdem, dass die Terroristen versucht haben, sich in die Ukraine durchzuschlagen. 

Die russische Grenze, das haben zuletzt wieder die Vorstöße putinfeindlicher russischer Freischärler im Bezirk Belgorod gezeigt, ist miserabel gesichert. Trotz der Minen und Soldaten, auf die der ukrainische Militärgeheimdienst hinwies, mögen sich da Lücken finden. Und: „Die Ukraine wurde 2018 und 2019 von IS-Leuten als Rückzugsort diskutiert, weil sie ihre Grenzen nicht effektiv kontrollierte und die Behörden so korrupt waren“, hatte der Islamismusexperte Guido Steinberg angesichts der Bedrohungslage am Kölner Dom im Januar gesagt. Auch einige der damaligen Verdächtigen waren aus der Ukraine eingereist.

Die Täter könnten also Sicherheitslücken auf beiden Seiten genutzt haben. Eine eigene Beteiligung allerdings hat die Ukraine scharf dementiert. Für eine Verwicklung ukrainischer Geheimdienstler hat Russland keine Belege vorgelegt. Sie ist auch nicht plausibel, welche Aussagen immer die Russen noch von den Festgenommenen erzwingen werden. Der IS ist ja auch für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer eine große Gefahr. Der ukrainische Militärgeheimdienst hat ganz andere Methoden – die für Russland sehr schmerzlichen Drohnenangriffe auf Raffinerieanlagen etwa, zuletzt in der Nacht zum Samstag im Bezirk Samara, Schläge gegen die Schwarzmeerflotte, auch die gezielte Liquidation einzelner Personen wie eines russischen U-Boot-Kapitäns oder der Putin-Propagandistin Daria Dugina.

Was ist über die Halle und die Band bekannt?

Die Halle gehört der „Crocus“-Unternehmensgruppe des aserbaidschanisch-russischen Unternehmers Emin Agalarow. Im Westen wurde sie durch einen Auftritt von Donald Trump bekannt, der dort 2013 den Miss-Universe-Wettbewerb veranstaltete und angeblich auf ein Treffen mit Putin am Rande der Veranstaltung hoffte. Wenn, dann tat er es vergebens. Später wurde eine unappetitliche Verbindung von Agalarow und Trump bekannt: Agalarow war es, der für Trumps Sohn Donald junior, Trump-Schwiegersohn Jared Kushner und Trump-Kampagnenchef Paul Manafort ein Treffen mit einer russischen Anwältin arrangierte, die kurz vor der US-Präsidentschaftswahl 2016 belastendes Material über Gegenkandidatin Hillary Clinton liefern sollte.

„Piknik“ aus St. Petersburg war zu Sowjetzeiten eher als progressive Band bekannt, orientiert an westlichen Vorbildern wie Led Zeppelin und den Rolling Stones. Bandleader Edmund Shklyarsky ist bekennender Katholik mit polnischen Wurzeln. Die Band hat sich dem Putin-Regime angepasst, unterstützt die „Sonderoperation“ in der Ukraine angeblich mit Geldspenden (das hat sie aber nie bestätigt), und auch ihr Auftritt bei Moskau mag als Unterstützung für die russische Führung gedeutet werden. Aber trotz martialischer klingender Verse wie „Wasch dich mit eigenem Blut am Morgen“ ist Shklyarskys Gruppe weit von ultranationalistischer Propaganda entfernt – und bietet eher Unterhaltung für ein breites Publikum. Für die „Tausenden Christen“ eben, die der IS treffen wollte.

Rundschau abonnieren