Amprion-Chef Christoph Müller urteilt: Der Kohleausstieg 2030 ist nicht mehr zu schaffen, wenn die Stromversorgung sicher sein soll.
Amprion-Chef„Wir brauchen dringend neue Kraftwerke“

Essenziell für die Energiewende: Der Strom aus Wind- und Sonnenenergie muss über Hochspannungsleitungen oder Erdkabel in Deutschland verteilt werden.
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Seit Anfang des Jahres führt Christoph Müller den Netzbetreiber Amprion. Das Unternehmen, das aus dem Energieversorger RWE hervorgegangen ist, gehört zu den größten europäischen Betreibern von Hochspannungsleitungen. Im Gespräch mit Ulf Meinke spricht Müller darüber, wie lange Deutschland noch Kohlekraftwerke benötigt und wie wahrscheinlich aus seiner Sicht ein Blackout ist.
Herr Müller, der Winter steht vor der Tür. Wie sicher ist die Stromversorgung in Deutschland?
Im anstehenden Winter und auch im Winter danach haben wir eine sichere Stromversorgung. Ich rechne allerdings mit Situationen, in denen Strom auf dem Markt knapp und die Preise im Energiegroßhandel hoch sein werden. Die Preisschwankungen nehmen zu.
Warum?
Die Gründe sind unterschiedlich – etwa eine hohe Nachfrage bei geringem Angebot, zum Beispiel, weil es kalt, dunkel und windstill ist. Mit Dunkelflauten muss man immer rechnen, durchaus mehrfach im Jahr.
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Geht es nur um witterungsbedingte Stromknappheit?
Wir bereiten uns auf alle denkbaren Situationen vor. Und wir haben in der Vergangenheit Erfahrungen gesammelt, die uns bei aktuellen und künftigen Einschätzungen helfen. Ein Beispiel: Im ersten Winter des Ukraine-Kriegs war die Stromversorgung doppelt unter Druck. Die Gasversorgungslage war sehr angespannt, hinzu kamen Probleme der französischen Kernkraftwerke. Wenn wir Entwicklungen wie diese oder ähnliche haben, reagieren wir. Das ist unser Job.
Sind auch Situationen möglich, in denen es nicht genug Strom für alle gibt?
Selbst dann, wenn wir echte Engpässe auf dem Strommarkt bekommen, haben wir in Deutschland derzeit immer noch Kraftwerke mit einer Kapazität von zwölf Gigawatt in Reserve – das entspricht etwa der Leistung von zwölf Kernkraftwerken. Wegen eines Erzeugungsmangels wird es hierzulande keinen Blackout geben. Eine Dunkelflaute beispielsweise ist gut vorhersehbar. Wir können uns auf eine solche Situation vorbereiten und wir werden daher nicht in einen unkontrollierten Blackout rutschen. Ich will das allerdings nicht als allgemeine Entwarnung verstanden wissen, denn die vorzubereitenden Maßnahmen können in Extremszenarien sehr einschneidend sein. Ein Beispiel sind Stromrationierungen. Wir brauchen dringend neue Kraftwerke, die Strom erzeugen, wenn Wind und Sonne dies nicht tun.
Es gab einen großen Stromausfall in Spanien im Frühjahr 2025, der immer noch Rätsel aufgibt. Aus Ihrem Haus hieß es danach, der Blackout in Spanien zeige: „Systemstabilität ist eine wachsende Herausforderung“. Was lässt sich denn konkret aus den Vorgängen in Spanien lernen?
Wenn es in der Vergangenheit irgendwo auf der Welt einen Blackout gab, dann hatte dieser meist mit Problemen im Netz zu tun, die plötzlich und unerwartet kamen. In Deutschland hat es solch ein Ereignis wie in Spanien seit vielen Jahrzehnten nicht gegeben. Die absolute Sicherheit gibt es aber nie. Die Ursache für den Blackout auf der iberischen Halbinsel wird derzeit noch untersucht. Ein wichtiger Faktor war offenbar die Spannungshaltung. Das ist – einfach gesprochen – der Druck, mit dem der Strom durch das Netz fließt. Wir sorgen in Deutschland auf diesem Feld schon seit Jahren vor, in dem wir entsprechende Anlagen in unser Netz integrieren. Seit 2023 hat allein Amprion 16 dieser Anlagen gebaut.
In NRW sollen die Braunkohlekraftwerke des Essener Energiekonzerns RWE im Jahr 2030 vom Netz gehen. Ist das aus Ihrer Sicht eine Gefahr für die Versorgungssicherheit beim Strom?
Das Stromsystem gerät zunehmend in Anspannung. Ich gehe fest davon aus, dass der nordrhein-westfälische Braunkohle-Tagebau wie geplant im Jahr 2030 beendet sein wird. Damit verbunden ist, dass wir Braunkohle-Kraftwerke mit einer gesicherten Leistung von sechs Gigawatt verlieren. Das wird die Aufgabe einer allzeitig sicheren Stromversorgung nicht einfacher machen. Zur Einordnung: Ein Gigawatt hat das Potenzial, eine Million Menschen mit Strom zu versorgen.
Aber es werden neue Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen gebaut.
Auch das ist gut und für die Erreichung der deutschen Klimaziele wichtig. Dass Sonne und Wind nicht allzeit verlässlich Strom liefern, war immer schon eine beliebte Polemik gegen den Ausbau der Erneuerbaren. Wir sind aber so erfolgreich in der Energiewende vorangekommen, dass wir dem Kern dieser Polemik mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Konventionelle Kraftwerke liefern zu jedem Zeitpunkt gesicherte Leistung, auch wenn Wind und Sonne dies nicht tun. Die verlieren wir. Damit werden die Schwankungen und auch die Hochpreis-Phasen im Strommarkt zunehmen.
Neben den Braunkohlekraftwerken im Rheinischen Revier gibt es noch Tagebau in Ostdeutschland. Die Ampel-Regierung hatte sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 aus dem Braunkohletagebau und der dazugehörigen Kohleverstromung auszusteigen. Ist dieses Ziel noch realistisch?
Ich glaube nicht, dass wir den Kohleausstieg 2030, den sich die letzte Bundesregierung vorgenommen hatte, noch schaffen werden. Für den gesetzlich festgelegten Kohleausstieg 2038 wären wir noch im beherrschbaren Zeitplan.
Um die Lücken, die der Kohleausstieg reißt, zu schließen, sollen neue Gaskraftwerke gebaut werden. Doch bislang kommen die Projekte kaum voran. Wie ernst ist aus Ihrer Sicht die Lage?
Wir brauchen neue Kraftwerke. Leider ist bei diesem Thema viel zu wenig erreicht worden. Auch das erschwert einen Kohleausstieg. Und die reale Welt ist etwas anderes als eine Power-Point-Präsentation. Nehmen Sie die Turbinen-Hersteller. Die haben die Anlagen, die für Gaskraftwerke erforderlich sind, auch nicht reihenweise im Lager liegen. Wenn es gelingen würde, die ersten Projekte ins Leben zu bringen, wäre das ein großer Erfolg. Wir sollten endlich anfangen.
Geht Deutschland die Energiewende falsch an?
Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin gerade berufsbedingt von Karlsruhe nach Dortmund gezogen. In Karlsruhe hatten wir es schön, dem trauert man nach. Und wir wollten es natürlich auch in Dortmund schön haben, dazu schmiedet man Pläne. Doch unser Augenmerk lag vor allem auf dem Umzug. Ein Familien-Haushalt lässt sich nicht einfach mit Kleintransporter transportieren. Bei der Energiewende ist es ähnlich. Wir diskutieren viel über die schöne neue Welt und auch, dass früher doch alles besser war. Wichtig ist aber der Umzug.
Was läuft denn aus Ihrer Sicht auf dem Weg zur neuen Energiewelt falsch?
Wir haben die Stromerzeugung sehr schnell ausgebaut – und den Transport vernachlässigt. Das ist so, als hätten wir in Karlsruhe kurz vor dem Umzug ein extragroßes Sofa für unser Wohnzimmer in Dortmund gekauft, um uns dann zu ärgern, dass das noch eine Bully-Fahrt zwischen Karlsruhe und Dortmund mehr bedeutet, wo es doch schon so viele sind.
Schon jetzt ächzen die Verbraucherinnen und Verbraucher über hohe Stromkosten, gerade auch große Verbraucher aus der Industrie. Machen Sie sich Sorgen um den Industriestandort?
Ja, das Thema treibt uns um. Amprion ist bundesweit der Übertragungsnetzbetreiber, der mit großem Abstand die meisten energieintensiven Endkunden hat. Etwa 30 Industriekunden – sehr große Verbraucher – sind direkt an unserem Netz angeschlossen. Mit ihnen befinden wir uns im direkten Austausch. Uns ist wichtig, dass es diesen Kunden gut geht. Es ist doch klar: Wenn diese großen Stromverbraucher nicht mehr in Deutschland wären, würde ein Teufelskreis in Gang kommen.
