Inzidenzen, VariantenIst Deutschland für den nächsten Corona-Winter gerüstet?

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Einem Jugendlichen wird ein Nasenabstrich für einen Corona-Test entnommen.

Einem Jugendlichen wird ein Nasenabstrich für einen Corona-Test entnommen.

  • Vor anderthalb Wochen warnte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), die Corona-Herbstwelle türme sich mit Wucht auf, und forderte vehement eine Maskenpflicht.
  • Doch jetzt sinken die Zahlen, haben wir das Gröbste schon überstanden?

Berlin – Vor allem vor der neuen „Höllenhund“-Mutante BQ.1.1 warnte der Gesundheitsminister und fürchtete einen dritten Corona-Winter. Sind Lauterbachs Befürchtungen berechtigt? Die wichtigsten Fragen und Antworten von drei Experten zur Pandemie-Lage und wie sie sich entwickeln wird:

Die Zahlen sinken wieder – Woran liegt’s?

Die Sieben-Tage-Inzidenz sank laut dem Pandemie-Radar des Robert-Koch-Instituts von 885,8 am 12. Oktober auf 644,5 am vergangenen Freitag. Bei den täglich gemeldeten Fällen ging es dem RKI-Dashboard zufolge von knapp 126000 am 11. Oktober auf gut 57000 am vergangenen Donnerstag zurück. Auch wenn viele Fälle nicht erfasst werden, sieht auch Lauterbach ein Abflachen der Kurve. Seine Erklärung, das liege an den Herbstferien, greift indes zu kurz. Denn bis sich die Schulpause in sinkenden Ansteckungszahlen niederschlagen könnte, würde es dauern. Und in vielen Ländern haben die Ferien erst begonnen.

Die Leiterin der Corona-Taskforce des Max-Planck-Instituts, Viola Priesemann, findet den Rückgang der Herbstwelle anders als Karl Lauterbach „recht natürlich und erwartbar“, wie sie im Gespräch mit unserer Redaktion sagt. „Aufgrund der Saisonalität hat man eine Welle der BA.5-Variante für den Herbst erwartet, die insgesamt hohe Inzidenzen, aber etwas weniger Krankheitslast mit sich bringt als die erste Omikron-Welle. Diese Dynamik sehen wir jetzt.“

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Standpunkt

Kölner SPD-Abgeordnete Lena Teschlade.

Kölner SPD-Abgeordnete Lena Teschlade.

In NRW müssten circa sechs bis acht Millionen Menschen mit einem angepassten Omikron-Impfstoff geimpft werden, das geht aus einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag hervor. „Diese werden vor Ort durch das mangelnde Engagement der NRW-Landesregierung aktuell aber nur sehr schlecht erreicht“, kritisiert die Kölner SPD-Abgeordnete Lena Teschlade. Um die Impfkapazitäten zu unterstützen, sind die Kommunen vom Land beauftragt worden, eigene Vorhaltestrukturen einzuplanen. In Köln müssten so eigentlich 15136 Impfungen pro Woche zur Verfügung gestellt werden. Tatsächlich seien es nur rund 5406 Dosen, so Teschlade. Sie fordert: „NRW-Gesundheitsminister Laumann und sein Ministerium müssen endlich auf die verschärfte Lage reagieren und für eine Impfkampagne selbst den Turbo-Booster anwerfen“. (EB)

Auch der Virologe und Ex-WHO-Direktor Klaus Stöhr ist wenig überrascht: Die rasante Ausbreitung während eines Corona-Peaks schränke die Anzahl empfänglicher Individuen ein. „Deshalb kann das exponentielle Wachstum nur endlich sein, und danach bricht die Welle ein“, sagt er. Und Da stünden wir jetzt.

Was ist mit der neuen Mutante BQ.1.1?

BQ.1.1 aus einer neuen Omikron-Sublinie wird „Cerberus“-Mutante genannt, nach dem Höllenhund aus der griechischen Mythologie. Sie breitet sich in mehreren Ländern sehr rasch aus. Virologen vermuten, BQ.1.1 könnte das Immunsystem austricksen, also auch durch Impfung oder vorherige Ansteckung immunisierte Personen leichter anstecken als andere Varianten. Das ist der natürliche Weg, über den sich Corona-Varianten gegen andere Varianten durchsetzen. „Man sieht in Daten aus Amerika: BQ.1.1. macht ganz schön Dampf. Die Variante breitet sich effizient aus“, sagte etwa der Virologe Martin Stürmer dem ZDF. Auch vor Deutschland macht BQ.1.1 nicht halt. Die Mutante werde „zwar noch selten, aber zunehmend“ auch bei uns nachgewiesen, heißt es im aktuellen RKI-Wochenbericht vom Donnerstagabend. Der Anteil steige „deutlich“. Die WHO hat „Cerberus“ unter Beobachtung, die Mutante gilt aber noch nicht als „besorgniserregend“ wie etwa die Delta-Variante, die im vergangenen Herbst grassierte und zu deutlich schwereren Verläufen führte. Darauf deutet bei BQ.1.1 bislang nicht viel hin, denn sie gehört zum harmloseren Omikron-Stamm. Das heißt: Impfungen oder vorangegangene Infektionen könnten weniger gut vor Ansteckung, aber effektiv vor schwerer Erkrankung schützen, und damit vor einer Überlastung der Intensivstationen.

Wie geht es denn jetzt weiter im nahenden Winter?

Sollte die Herbstwelle in sich zusammenfallen, wäre das nur eine Verschnaufpause. „Nach einer gewissen Zeit kommt es zu einer neuen ,Durchmischung‘ der Population, und eine neue Welle beginnt, jetzt aber wegen der etwas höheren Immunität auf niedriger Ebene“, erklärt Virologe Stöhr. Das gegenwärtige Abflachen der Kurve sei „vorübergehend“. Stöhrs Prognose für den Winter: „Jetzt treffen zunehmende Immunität in der Bevölkerung auf der einen Seite auf den saisonalen Winter-Effekt und weitestgehend abwesende Maßnahmen. Dazu kommt noch eine erhebliche Immunitäts-Lücke bei den über 70-Jährigen. In der Summe wird das eine signifikante Zunahme der Hospitalisierungen auf den Normalstationen geben, mit zum Glück weit geringerem Druck auf die Intensivstationen als im letzten Jahr.“

Zur Arbeit trotz Covid-Infektion?

Die Isolationspflicht für covidpositive Pflegekräfte aufzuheben, die nicht krank werden, könnte das Problem theoretisch etwas lindern. Entsprechende Forderungen gelten aber als politisch nicht durchsetzbar. Es wäre Pflegekräften auch kaum zuzumuten, trotz einer Ansteckung zu arbeiten, während alle anderen Angestellten bei einer Infektion zu Hause bleiben dürften. Eine generelle Aufhebung der Isolationspflicht lehnt Gesundheitsminister Lauterbach bislang kategorisch ab. (tob)

Für das Gesundheitswesen komme aber erschwerend hinzu, dass es zu mehr anderen Atemwegserkrankungen komme, die in der Pandemie-Zeit unterdrückt worden waren. Und dass die „nicht mehr zeitgemäße“ Corona-Isolationspflicht für positiv getestete, aber symptomfreie Pfleger und Ärzte die generell prekäre Pflegesituation noch verschlimmere.

Was ist angesichts der aktuellen Lage zu tun?

Die meisten Forscher, Experten und Politiker sehen das größte Problem nicht mehr in der Gesundheitsgefahr durch das Virus selbst. „Geht es um Covid auf der Intensivstation, erscheint es derzeit nicht notwendig, die Maßnahmen zu verschärfen“, sagt etwa Priesemann.

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Erhebliche Sorgen bereiten aber die gravierenden Personalprobleme an den Kliniken. Die ohnehin prekäre Lage in der Pflege wird noch dramatischer, weil sich so viele Mitarbeiter mit Corona infizieren. Eine konsequent umgesetzte Maskenpflicht in Innenräumen und bei Veranstaltungen würde eine neue Corona-Welle bremsen helfen. Lauterbach, aber auch Krankenhaus- und Ärzteverbände haben sie bereits gefordert, sind damit aber bei den Bundesländern, die die Maßnahme einführen müssten, abgeblitzt. Eine engmaschigere Testung der Bevölkerung könnte helfen. Doch für kostenlose Tests will die Regierung kein Geld mehr ausgeben.

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