Frage des TagesWas kostet der Brexit die EU, Herr Oettinger?

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Günther Oettinger

Günther Oettinger (CDU) wird nach Ende seiner Amtszeit selbstständiger Wirtschafts- und Politikberater.

  • Fast zehn Jahr war Günther Oettinger die deutsche Stimme in der Europäischen Kommission.
  • In wenigen Wochen endet seine Amtszeit in Brüssel.
  • Im Interview zieht er Bilanz und sagt, was die deutschen Steuerzahler der Brexit kostet.

Brüssel – Frage: Als Sie vor fast zehn Jahren nach Brüssel gekommen sind, galten Sie als EU-skeptisch. Heute sind sie ein Prophet für die EU und eine der wichtigsten Schlüsselfiguren der Europäischen Kommission. Was ist passiert? Oettinger: Ein wirklicher Skeptiker war ich nicht. Wer wie ich aus Baden-Württemberg kommt, weiß um die Vorzüge des Binnenmarktes. Denn von dem profitieren wir alle. Richtig ist aber, dass die EU-Kommission ein komplexes Gebilde ist, dessen Strukturen und Abläufe sich einem nicht von vorneherein erschließen. Aber wenn man erst einmal versteht und erlebt, wie effizient diese Behörde die Interessen von 28 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenführt und daraus Gemeinsamkeit schafft, dann ist das nicht nur beeindruckend, sondern auch ein Stück begeisternd. Das darf ich auch als jemand sagen, der dazu gehört.

Was ist anders geworden? Wo hat die EU sich verändert?

Es ist viel passiert. Als ich nach Brüssel kam, waren wir noch mit der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise befasst. Und die richtigen Instrumente mussten wir erst finden. Heute können wir sagen, dass die meisten betroffenen Länder wie Irland, Portugal, Spanien und Zypern ihre Hausaufgaben gemacht haben und die Probleme überwunden sind. Lange wurden über ein Ende des Euro spekuliert, heute ist die Gemeinschaftswährung stabiler denn je. Das hat die Gemeinschaft verändert.

Gab es ein Thema, von dem Sie heute sagen, dass Sie es zunächst falsch eingeschätzt haben?

Ich habe tatsächlich nicht damit gerechnet, dass in der Flüchtlingskrise derart viele erbitterte Gegensätze in Europa aufbrechen würden. Ebenso waren die Veränderungen, die durch die Politik Chinas, durch die Strategie des amerikanischen Präsidenten Donald Trump und den Brexit auf uns zugekommen sind, nicht absehbar.

Zur Person

Günther Oettinger (65) war von 2005 bis 2010 baden-württembergischer Ministerpräsident. Im gleichen Jahr wechselte der CDU-Politiker nach Brüssel, wo er als EU-Kommissar zunächst das Energie-Ressort übernahm. 2014 machte ihn der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Kommissar für Digitales, seit 2017 ist Oettinger für Finanzplanung und Haushalt zuständig, wozu auch das Personalwesen der Kommission gehört.

Nun wissen wir ja beim Brexit noch nicht, wie der Prozess schließlich ausgeht. Haben Sie noch Hoffnungen auf einen Deal?

Das Unterhaus hat beschlossen, einen Austritt ohne Abkommen nicht zu akzeptieren. Ich gehe mal davon aus, dass das Parlament in der Kraftprobe mit der Regierung seine Rechte wahren und durchsetzen wird.

Haben Sie denn den Eindruck, dass Premierminister Boris Johnson jemand ist, mit man reden kann?

Ich glaube, ein Gespräch mit ihm kann unterhaltsam sein. Aber unter politischen Verhandlungen verstehe ich belastbare und verbindliche Abmachungen. Und ich erwarte gradlinige Gesprächspartner. Das kann ich über Johnson nicht sagen.

Als Haushaltskommissar müssen Sie die entstehende Finanzierungslücke durch den Austritt der Briten bewältigen. Wie groß ist diese?

Wenn es ein Abkommen gibt, haben wir 2020 kein Problem. Denn 2020 ist das letzte Jahr unserer derzeit geltenden siebenjährigen Finanzperiode. Großbritannien hat diesen Finanzrahmen mitunterschrieben, muss also voll einzahlen. In der nächsten siebenjährigen Finanzierungsperiode ab 2021 werden wir im ersten Jahr eine Lücke von zwölf und im letzten ein Loch von 14 Milliarden Euro haben. Mein Vorschlag ist, dieses Defizit zur Hälfte durch Einsparungen und zur anderen Hälfte durch höhere Beiträge zu finanzieren.

Welche zusätzlichen Lasten kommen da auf Deutschland zu?

Wenn wir keine Talfahrt bei Agrar- und Regionalförderung haben wollen, dann müssen alle Mitgliedsstaaten ihre Beiträge erhöhen.

Können Sie konkrete Summen nennen?

Ich beschreibe ein Beispiel. Von 100 Euro, die der deutsche Bürger verdient, gehen zwischen 46 und 50 Euro an den Staat. Von diesen 50 Euro, die der Staat erhält, landet derzeit ein Euro im Haushalt der EU. Dieser Betrag müsste auf 1, 114 Euro erhöht werden, um die Finanzierungslücke, die die Briten hinterlassen, zu schließen.

Es gibt auch noch eine Schlussabrechnung der Briten mit der EU. Premierminister Johnson hat angekündigt, nicht zu zahlen. Was machen sie dann?

Wenn er diese Ankündigung durchzieht, haben wir in der Tat ein Problem, er aber auch. Unsere Schwierigkeit besteht darin, dass wir die EU-Forderungen vor keinem Gericht der Welt durchsetzen könnten. Johnson wiederum muss wissen, dass er mit uns sicherlich keine erfreulichen Abmachungen über die Zukunft bekommen würde, sollte er wider alle Vernunft die Zahlung verweigern. Wer Rechnungen nicht begleicht, hat die Glaubwürdigkeit bei Verhandlungen verloren. Und ich bin mir übrigens sicher, dass die von der britischen Regierung ins Auge gefassten neuen Partner das nicht anders sehen.

Bei den Etatverhandlungen geht es auch um die Frage, ob man Ländern, die Defizite bei Demokratie und Rechtstaatlichkeit haben, Fördermittel entziehen soll. Wie denken Sie darüber?

Die Kommission ist da bisher sehr konsequent gewesen. Wir haben ermahnt, abgemahnt und verklagt – und vor dem Europäischen Gerichtshof Recht bekommen. Uns fällt auf, dass sich Tonlagegerade ändert – von polnischer, aber auch von ungarischer Seite. Die Regierungen mögen diesen scharfen Kurs in Brüssel nicht, aber sie akzeptieren die Beschlüsse doch zumindest teilweise. Dennoch brauchen wir weitere Instrumente. Ich habe vorgeschlagen, Auszahlungen ganz oder teilweise verweigern zu können, sollte es Rechtstaatsprobleme geben. Das EU-Parlament war bisher dafür, der Großteil der Mitgliedstaaten auch. Ich gehe somit davon aus, dass diese Regelung in einigen Monaten in Kraft treten wird.

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Italien gehörte bisher zu den Sorgenkindern der Union. Ist das Auseinanderbrechen der Koalition für Sie eine gute Nachricht?

Dass Ministerpräsident Giuseppe Conte in dieser politischen Situation zurückgetreten ist, achte ich hoch. Das Vertrauen in Staatspräsident Sergio Mattarella bleibt groß. Und wenn der bisherige Innenminister Matteo Salvini nun scheitert, halte ich das für eine gute Nachricht. Sollte es zu einer Regierung ohne Salvini kommen, kann man das Land dazu nur beglückwünschen.

Ursula von der Leyen wird neue Kommissionspräsidentin. Welche Tipps würden Sie ihr geben?

Ich gebe nicht gern ungefragt Ratschläge. Ich mache es nur, wenn die betreffende Person es auch will und mich fragt. Ich glaube aber, dass Frau von der Leyen im EU-Parlament eine starke Unterstützung bekommt. Damit kann sie die großen Herausforderungen, vor denen Europa steht, anpacken. Und sie kann sich zugleich auf die Mitgliedstaaten verlassen, die haben sie ja einstimmig mit einer Enthaltung gewählt. Das sind gute Voraussetzungen

Trotzdem ist der Ärger noch nicht verraucht. Welche Rolle trauen Sie dem gescheiterten Spitzenkandidaten der Christdemokraten, Manfred Weber, in Zukunft zu?

Er ist der Chef der größten Fraktion und damit der wichtigste Parlamentarier. Wenn ich sein Lebensalter ansehe (Manfred Weber ist 46 Jahre alt, d. Red.), ist für ihn noch nicht alles gelaufen. Ich traue ihm zu, in fünf Jahren noch einmal anzugreifen und sich als Kommissionspräsident zu bewerben.

Wenige Tage vor dem kommenden Wahlsonntag gibt es in der CDU Diskussionen um den richtigen Kurs. Wie stark ist die Union?

Ich habe das Gefühl, dass immer mehr Wähler verstehen, wie groß der Schaden für die Standorte Sachsen und Brandenburg wäre, wenn sie der AfD ihre Stimme geben. Deshalb bin überzeugt: Es wird in beiden Ländern eine politische Mehrheit ohne die AfD geben wird.

Wie soll sich die CDU denn positionieren: punktuelle Bündnisse oder völlige Verweigerung jeder Zusammenarbeit mit der AfD?

Ich halte es für richtig, unmissverständlich klarzustellen, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht infrage kommt. Zumal diese Partei ja immer radikaler wird, denn sie ist zunehmend durch Figuren wie Björn Höcke geprägt. Hinzu kommen immer mehr antisemitische Tendenzen, die Verdrängung von Tatsachen und Verweigerung von Politik. Deshalb halte ich jede Zusammenarbeit mit der AfD für undenkbar.

Wird in der CDU am Montag nach der Wahl eine neue Diskussion um Annegret Kramp-Karrenbauer und ihre Eignung für das Kanzleramt aufbrechen?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Landtagswahlen sind wichtig, die CDU wird deutlich besser abschneiden, als noch vor wenigen Wochen zu erwarten war. Die Debatte, wer meine Partei als Kandidat in den nächsten Bundestagswahlkampf führt, steht nicht an und wird auch später entschieden.

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