Interview mit Bodo Ramelow zu Corona„Wir müssen mit dem Alarmismus aufhören“

Lesezeit 7 Minuten
Neuer Inhalt

 Bodo Ramelow (Die Linke), Ministerpräsident von Thüringen

  • Für Thüringens Ministerpräsident ist Covid-19 ein Lebensrisiko wie der Krankenhauskeim auch.
  • Er beklagt aber Lücken im Datenschutz bei der Corona-Warn-App und den Gästelisten in Restaurants.
  • Das zerstöre das Vertrauen in den Staat.
  • Das Gespräch führte Kristina Dunz

Erfurt – Kollegenschelte findet Bodo Ramelow eigentlich nicht so gut, aber über Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) möchte er im Interview in seinem Büro in der Thüringer Staatskanzlei dann doch ein kleines Bisschen schimpfen. Die „Mittelfinger“-Affäre kommt natürlich auch zur Sprache - und die Frage, ob er ein Wutkopf ist.

Herr Ramelow, Sie gehören zu den Ministerpräsidenten, die früh die Corona-Maßnahmen gelockert haben. Bundesweit steigen die Zahlen wieder an. Kann sich die Republik einen zweiten Shutdown leisten?

Ramelow Zur Klarstellung: Ich habe keinen Lockerungskurs vertreten. Ich wollte aber, dass wir endlich mit dem ständigen Alarmismus aufhören. Zu Beginn der Pandemie haben wir gemeinsam so hart handeln müssen, damit wir überhaupt in die Lage kamen, die Welle aufzuhalten. Diese Härte war notwendig. Der Erfolg hat uns Recht gegeben. Wir haben aber einen Lernprozess durchlaufen, was Ursachen für die Infektionen sind: Erst war es die Schmierinfektion, dann die Tröpfcheninfektion und nun gehen wir von den Aerosolen aus.

Alles zum Thema Robert Koch-Institut

Das könnte Sie auch interessieren:

Die tatsächlichen Erkenntnisse müssen wir in den Blick nehmen und mit dem Virus leben und nicht täglich neue Ängste schüren. Covid-19 ist ein Lebensrisiko wie die Sepsis und der Krankenhauskeim auch. Ich wollte aus den Notverordnungen raus. Und wenn es – wie bei einem Vorfall in Ostthüringen – für die Musik eines Posaunenchors in weitem Abstand zueinander auf der Wiese ein Bußgeld gibt, gilt diese Losung: Wenn der Buchstabe der Verordnung über dem Sinn der Verordnung steht, geht es schief.

Noch einmal zurück zu der Frage, ob sich die Republik einen zweiten Shutdown leisten kann.

Ramelow Spekulationen um einen Shutdown machen in der gegenwärtigen Lage wenig Sinn. Aktuell brauchen wir auch keinen mehr. Der erste war richtig. Er war hart und er ist teuer. Aber er war auch ein Lernprogramm. Heute wissen wir: Unsere Gesundheitsämter sind alarmiert. 

Viele Bürger haben brav ihre Daten bei einem Restaurantbesuch abgegeben und hören dann, dass die Polizei manche Adressen zur Strafverfolgung nutzt....

Ramelow ... das geht nicht. Deswegen habe ich für Thüringen angeordnet, dass das bei uns nicht passiert. Die Erfassung dieser Daten der Bürger ist eine Maßnahme auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes. Damit müssen wir alle leben, weil eine höhere Gefahr - die der Corona-Infektion - droht. Wenn der Staat diese Daten aber anschließend für andere Dinge missbraucht, zerstört er Vertrauen und damit den Schutzcharakter des Infektionsschutzgesetzes. Bei der Gesetzgebung für die LKW-Maut wurde ausgeschlossen, dass die Datenerfassung der Fahrzeuge zur Aufklärung von Verbrechen herangezogen werden darf. Vergleichbares müssen wir auch bei den Listen in den Restaurants rechtlich regeln. Denn die Polizei ist angehalten, zur Aufklärung einer Straftat alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen - es sei denn, es wird etwas ausdrücklich untersagt. Das müssen wir jetzt machen. Das ist aber nicht die einzige kritische Folge der Maßnahmen.

Was noch?

Ramelow Ich bin ein überzeugter Anhänger der Corona-Warn-App der Bundesregierung. Aber jetzt weiß ich, dass gar nicht allen positiv Getesteten Vertraulichkeit garantiert werden kann. Der Grund: Es fehlen Zettel.

Zettel?

Ramelow Das ist der Abrisszettel auf einem amtlichen Dokument mit einem QR-Code, der fotokopiersicher ist, um Datenschutz zu garantieren. Der eine Teil ist für das Labor und der andere für den Getesteten. Dieser kann den Code für sein Testergebnis mit seinem Handy in die App laden. Anonym. Diese amtlichen Zettel fehlen aber bundesweit in vielen Laboren, weil noch nicht genügend gedruckt wurden. Deshalb muss der positiv Getestete jetzt die Hotline des Robert-Koch-Instituts anrufen, seinen Namen nennen und seine Telefonnummer angeben, wenn er sein Testergebnis netterweise in die App stellen will. Und da ist die ausdrücklich garantierte Anonymität nicht mehr gegeben, und damit ist der Datenschutz schon wieder im Eimer. Das ist ein Organisationsversagen, was zu einem Datenschutzverstoß führt und zu einem weiteren Vertrauensverlust.  

Hat die Corona-Pandemie irgendetwas Gutes?

Ramelow Für einen Teil der Wirtschaft kann die Krise ein Schub sein. Die Thüringer Firma Breckle etwa hat bisher nur Matratzen genäht. Nun ist sie zu einer vollautomatischen Maskenproduktion in der Lage. Damit können wir das, was aus China geliefert wird, selbst produzieren. Zum vergleichbaren Preis. Das Einzige, was fehlt, und das finde ich sehr ärgerlich: Der Termin für die dringend notwendige Zertifizierung. Es gibt in Deutschland nur zwei Prüfstellen und die sind so überlastet, dass es jetzt keine schnelleren Prüfungen gibt. So werden wir noch viele untaugliche Masken aus dem Ausland bekommen. Darum muss sich Gesundheitsminister Jens Spahn kümmern.

Wie sind Sie mit der Organisation und Präsentation der Ministerpräsidenten durch ihren derzeitigen Vorsitzenden, CSU-Chef Markus Söder aus Bayern, zufrieden? 

Ramelow Bayern hat zehn Mal so viele Infektionen wie Thüringen. Markus Söder hat für Bayern die richtigen Maßnahmen ergriffen. Die sind aber nicht identisch mit den Notwendigkeiten anderer Bundesländer. Er hat seine bayerische Rolle nicht verlassen und seine Rolle als der Ministerpräsident für alle Ministerpräsidenten nicht ausfüllen können. Er hat es nicht geschafft, sich einen Moment hineinzudenken, in welcher Situation die anderen sind. Und da spielt auch der Konflikt mit Armin Laschet um die Kanzlerkandidatur eine Rolle. Das schleicht sich die ganze Zeit durch die Corona-Krise. CDU-Ministerpräsidenten scheuen offene Auseinandersetzungen und teilen ihre Entscheidungen dann einfach nach den gemeinsamen Konferenzen mit.

Thüringen stoppt wie einige anderen Bundesländer Tiertransporte ins Nicht-EU-Ausland. Was muss Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner tun? 

Ramelow Ich bin grundsätzlich gegen lange Schlachttiertransporte. Auch im Inland. Der Sinn besteht doch nur noch im Preisdruck, auch innerhalb Deutschlands. Das ist kein legitimer Grund. Und ein holländisches Schwein an den Dümmer See zu bringen, um es dort zu mästen und lebendig nach Südtirol zu bringen, um es dann als Südtiroler Bauchspeck in den deutschen Discounter zu bringen - das steht für krasses Tierleid. Wir müssen den Fall Tönnies als Chance auch für die Tiere sehen.

Und zwar?

Ramelow Alle reden über den erbärmlichen Umgang mit osteuropäischen Mitarbeitern, aber kaum einer redet über die Bauern und schon gar nicht über den erbärmlichen Umgang mit den Tieren. Frau Klöckner muss sich für eine andere Fleischwirtschaft stark machen. Wir brauchen wieder Schlachthöfe in den Regionen und regionale Kreisläufe. Wir müssen Tiertransporte so teuer machen, dass sich die Schlachtung in der Region bis hin zum Weideschuss wieder lohnt. Es muss eine kulturelle Umkehr geben. Dann bekommen wir auch wieder das Gefühl dafür, was wir essen und welchen Wert Fleisch hat. Unsere Kinder machen diese Erfahrungen wie die der Hausschlachtung leider nicht mehr. 

Zur Geschichte des Mittelfingers ...

Ramelow Alle reden über meinen Mittelfinger, aber niemand über das eigentliche Problem: Um was ging es eigentlich?

Dass ich mich ein Stück weit hilflos fühlte in der Situation, gebe ich gerne zu, aber es ging in der Landtagsdebatte um den NSU, die braune Mordspur durch Deutschland und ihre gravierenden Folgen – und damit auch um den Rassismus von heute. Der AfD ging es aber in keiner Weise darum. Dann zeigte der AfD-Redner mit seinem spitzen Finger auf mich - und ich reagierte reflexartig mit meinen Mittelfinger.

Manche sagen, sie seien ein Wutkopf und ein Rechthaber. 

Ramelow Da ist ja nichts gegen zu sagen, wenn man das so sehen möchte. Aber: Ich bin von den NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt - auch körperlich - verfolgt worden. Ich war im Prozess um den Überfall auf die Wehrmachtsausstellung 1995 in Erfurt der Hauptzeuge. Mundlos und Böhnhardt waren ständig im Gerichtssaal und haben mich auch privat verfolgt. Ich kenne die Abläufe alle und musste mir anhören, wie die AfD das Thema NSU ignoriert. Und ich sehe, wie heute wieder Ausländer zusammengeschlagen werden. Die Dinge laufen schon wieder falsch. Aber alle reden über meinen Mittelfinger. Das ist, wenn die Ästhetik über den Inhalt geht. Diese gewisse Hilflosigkeit macht mir viel mehr aus als mein Mittelfinger.

Rundschau abonnieren