Tragischer Unglücksfall: Zwei Menschen sind in Polen wohl durch eine ukrainische Luftabwehrrakete gestorben. Was muss die Nato jetzt tun – und was ist von der Regierung in Kiew zu verlangen? Und welche Rolle spielt Russland?

Kommentar zum Raketen-ZwischenfallRussland spielt Hazard

Untersuchungen im polnischen Ort Przewodow
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Es ist der Albtraum jedes Soldaten in der Luftabwehr: Eine Abfangrakete wird gestartet, verfehlt ihr Ziel, geht irgendwo nieder und tötet Menschen, anstatt Menschen zu schützen. Opfer wurden in diesem Fall Bürger nicht der von Russland angegriffenen Ukraine, sondern des Nachbarlandes Polen. Die sonst so eloquente ukrainische Führung ist ihren westlichen Unterstützern jetzt genaue Auskunft über eventuelle Fehler ihrer Soldaten schuldig und sollte bis auf weiteres nicht von einer „russischen Spur“ reden. So weit fliegen die Raketen des alten sowjetischen Luftabwehrsystems S-300 nicht.
Kein Bündnisfall
Unabhängig davon haben Polen, die USA und ihre Nato-Partner aber schnell das Ausmaß dessen eingeordnet, was wahrscheinlich passiert ist: ein tragischer Unfall. Kein Bündnisfall, auch kein Fall für Konsultationen nach Artikel vier des Bündnisvertrags, aber ein Beispiel für eine sehr ernste Entwicklung im Ukraine-Krieg.
Nur 60 Kilometer bis Lwiw
Der Unglücksort Przewodów liegt nur 60 Kilometer von der ukrainischen Großstadt Lwiw (Lemberg) entfernt, die massiv von den russischen Raketenangriffen am Dienstag betroffen war. Der fast gleichzeitige Abschuss von rund 100 Raketen hatte ja erkennbar den Sinn, die ukrainische Luftabwehr zu überfordern. Und mit der Wahl von Zielen tief im Westen der Ukraine nimmt Russland die Gefährdung von Nachbarländern billigend in Kauf.
Auch das ist nichts Neues. Die russische Art der Kriegführung ist nicht nur kriminell - eine Serie von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht -, sondern auch hazardös. Regelmäßig gibt es Luftschläge nahe der Grenzen von Nato-Staaten. Schon zu Beginn des Krieges hatte eine russische Drohne mit Sprengkopf drei Nato-Staaten überflogen, bis sie in Kroatien niederging. Im Atomkraftwerk Saporischschja verletzen die Besatzer elementare Regeln der nuklearen Sicherheit und bedrohen damit auch Nachbarländer. Und macht sich irgendjemand in Moskau klar, welche Gefahren für die internationale Sicherheit und auch für das eigene Land man durch die Rüstungskungelei mit der Möchtegern-Atommacht Iran, einer Zentrale des internationalen Terrors, heraufbeschwört?
Was die Nato jetzt tun muss
Umso wichtiger ist es, dass die Nato-Staaten den Kontakt zur russischen Führung halten. Man kann nur hoffen, dass es westlichen Abgesandten wie zuletzt US-Sicherheitsberater Jake Sullivan irgendwann doch gelingt, ihren Gesprächspartnern in Moskau bei der angemessenen Einschätzung der von ihnen eingegangenen Risiken zu helfen. Der tragische Unfall von Przewodów sollte da eine Warnung sein. Und ein zusätzlicher Anstoß, der Ukraine bei der Modernisierung ihrer Luftabwehr zu helfen.