Köln – Ein Provokateur, ein Clown als Präsident, an seiner Seite eine Riege von Politikern und Spitzenbeamten, die er aus Mitgliedern einer Komikertruppe zusammengestellt hat: Der Lebenslauf des Wolodymyr Selenskyj wäre auch schon dann historisch beispiellos, wenn Russland die Ukraine nicht überfallen hätte und der bekannte Unterhaltungskünstler jene Präsidentenrolle, die er in der TV-Serie „Diener des Volkes“ verkörpert hatte, in friedlichen Zeiten auch real ausfüllen würde. Dass der Präsidentendarsteller selbst Präsident wurde, ist nach Überzeugung des Selenskyj-Biographen Sergii Rudenko kein Zufall: Selenskyj, schreibt er, hatte den Weg in die Politik bewusst angestrebt, die Rolle in der TV-Serie passte zu seiner Strategie. Kein Wunder, dass die ihn tragende Partei heute unter dem Namen der TV-Serie auftritt: „Diener des Volkes“ eben.
2016 löste Selenskyj bei einem Auftritt im Ausland, im lettischen Badeort Jamala, einen Skandal aus: Er verglich sein Heimatland Ukraine mit einer Pornodarstellerin, die nie genug bekomme. „Billiger Clown“, „verfluchter Hund“, das waren noch eher freundliche Kommentare, die er erntete – und schließlich stellte er auf Facebook folgendes klar: Er habe die von der Ukraine allzu reichlich aufgenommenen Kredite gemeint. Und dann solche, tatsächlich präsidialen Sätze: „Wir sind eine stolze Nation und keine Bettler … Das war ein Scherz über unsere Anführer, über die an der Macht, nicht über die Leute oder unser Land.“ Rudenko sieht diese Episode als möglichen Anlass für Selenskyj, wirklich zu kandidieren.
Mit einer genialen Bewerbungsrede fürs Amt kandidiert
Ja, Selenskyj vergreift sich gelegentlich im Ton – doch oft, viel öfter, trifft er genau den richtigen Ton, und mit seinen TV-Ansprachen im Krieg wird er in die Weltgeschichte eingehen. Mit welcher Sicherheit er die Probleme seines Landes benennen kann, zeigte er schon bei der fingierten Neujahrsansprache, mit der er, damals noch in der TV-Rolle des Präsidenten Wassyl Holoborodko, seine Landsleute im Jahr 2019 begrüßte, um seine Kandidatur fürs echte Präsidentenamt anzukündigen. Selenskyj ist russischer Muttersprachler und startete seine pseudo-präsidiale Botschaft auch auf Russisch, wechselte dann ins Ukrainische und stellte drei mögliche persönliche Konsequenzen aus der Misere seines Landes vor: vor sich hin leben, ins Ausland gehen oder etwas ändern. „Ich habe mich für die dritte Möglichkeit entschieden.“
Eine geniale Bewerbungsrede. International gab es zunächst nur einen Spitzenpolitiker, der den Kandidaten Selenskyj ernst nahm: den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der ihn vor der zweiten Wahlrunde empfing. Andere behandelten ihn auch nach dem Wahlsieg vom 21. April 2019 (mit 73 Prozent im zweiten Wahlgang!) und dem Amtsantritt als Leichtgewicht. US-Präsident Donald Trump meinte, ihn im eigenen Wahlkampf gegen Joe Biden manipulieren zu können.
Ein verstolperter Start mit Affären und Korruption
Und Selenskyjs Start war ja auch verstolpert: Nach der im Juli folgenden Parlamentswahl fielen die Abgeordneten seiner „Diener des Volkes“ gleich reihenweise durch Korruption und andere Affären auf. Wie einst Fernsehpräsident Wassyl Holoborodko – die Wähler hätten es also ahnen können – hievte er seine Kumpel in hohe Staatsämter. Und die musste er später einen nach dem anderen wieder ablösen. Den letzten, für die Ukraine besonders tragischen Fall konnte Rudenko wegen des Redaktionsschlusses der deutschen Ausgabe nicht mehr in seinem Buch erwähnen: Geheimdienstchef Iwan Bakanow, einst Leiter von Selenskyjs Kabarettgruppe „Kwartal 95“ (benannt nach dem gemeinsamen Wohnviertel in Krywyj Rih) und des gleichnamigen TV-Senders, wurde im Juni 2022 entlassen, und zwar wegen der zahlreichen Fälle von Hochverrat in seiner Behörde, derer er nicht Herr wurde. Ohne Doppelagenten in Bakanows Behörde wäre der schnelle russische Durchmarsch bis nach Cherson kaum möglich gewesen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Auf weite Strecken liest sich diese Präsidentenbiographie wie ein Schelmenroman, ja wie ein Verriss. Dass ein ukrainischer Journalist so ein Buch in Kiew ganz selbstverständlich herausbringen und dann international publizieren kann, spricht umso mehr für dieses Land, das bei all seinen Problemen ein demokratischer Rechtsstaat ist – und genau das ist es ja, was die von russischen Propagandisten als Nazis diffamierten Bürger der Ukraine nicht hergeben wollen.
Immer für Überraschungen gut
Leitfigur ihres Widerstandes wurde genau jener Wolodymyr Selenskyj, der als Kabarettdarsteller in Russland außerordentlich populär war, der mit der Maidan-Revolution von 2014 nichts zu tun hatte und im gleichen Jahr in der russisch besetzten ukrainischen Stadt Horliwka auftrat. An jenem 17. April 2014, als prorussische Kräfte dort den Ratsherrn Wolodymyr Rybak entführten und ermordeten. Der hatte eine russische Fahne durch eine ukrainische ersetzt, Selenskyj spielte Kabarett mit „Kwartal 95“. Jener Selenskyj bildete sich dann als Politiker viel zu lange ein, er müsse nur mal richtig von Mann zu Mann mit Wladimir Putin reden.
Vor dem Krieg habe fast jeder öffentliche Auftritt Selenskyjs an seine Vergangenheit als Schauspieler erinnert, schreibt Rudenko. Seit dem 24. Februar habe man „einen anderen Menschen“ vor sich, müde, unrasiert, einen Mann, der Gefühle zeigt und ein ganzes Volk hinter sich versammelt hat.
Das Buch, muss man dazu wissen, ist in seiner ersten Fassung vor Kriegsbeginn geschrieben und veröffentlicht worden. Es ist spürbar, wie sehr der neue, der authentische Selenskyj, ohne dessen Kommunikationstalent die Ukraine wohl längst verloren wäre, den Autor selbst überrascht. Aber für Überraschungen, das musste Putin bereits bitter erfahren, sind Ukrainer ja immer gut.
Sergii Rudenko, Selenskyj. Eine politische Biographie. Hanser Verlag, 224 Seiten, 24 Euro.