Der Palliativmediziner Dr. Thomas Sitte fordert eine bessere medizinische Versorgung und groß angelegte Aufklärungskampagnen.
Gesetzliche Sterbehilfe-RegelungPalliativarzt warnt vor Legalisierung – Sorge vor Pflicht zur Selbsttötung
Herr Dr. Sitte, zwei Gesetzesentwürfe zur Sterbehilfe wurden in der vergangenen Woche abgelehnt. Sind Sie damit zufrieden?
Ich bin froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Die Abstimmung stand völlig im Schatten des Heizungsgesetzes, eine gesellschaftliche Debatte darüber fehlte völlig, die Beiträge waren oft nicht sachgerecht und sind von völlig falschen Beispielen ausgegangen.
Zur PersonDer Palliativmediziner Dr. Thomas Sitte war unter anderem im Hamburger Kinderhospiz Sternenbrücke tätig. Magna cum laude promovierte er 2016 zur Frage „Palliative Versorgung statt Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlagen? – Über eine mögliche Notwendigkeit lebensverkürzender Maßnahmen“. Im Rahmen seiner Studien befragte er 49 Palliative Care Teams, die in den Jahren 2013 und 2014 insgesamt 17 772 Patienten bis zum Tod begleiteten. Ein Fazit war, dass es nur extrem wenige Fälle gebe, in denen die Linderungsmöglichkeiten für Palliativpatienten so unzureichend seien, dass Beihilfe zur Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen angezeigt scheinen – und dass es kaum möglich sei, für diesen sehr kleinen Kreis gesetzliche Rahmenbedingungen zu definieren. Der Mediziner fordert, dass schwerst erkrankten Patientinnen und Patienten sowie Sterbenden in Deutschland mehr gesellschaftliche und staatliche Fürsorge zuteil werden soll. Mit verschiedenen Netzwerken setzt er sich dafür ein, darunter mit der Deutschen PalliativStiftung und dem Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland, deren Gründungsmitglied er ist. (jot)
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Zu Ihren Kritikpunkten gehört, dass es keine seriöse Folgenabschätzung dazu gebe, wie eine Legalisierung der Sterbehilfe sich auswirkt. Was genau erwarten Sie von der Politik?
Der Bundestag könnte über seinen Wissenschaftlichen Dienst Daten zur Entwicklung in anderen Ländern einholen. Es wird oft argumentiert, dass durch Tötung auf Verlangen oder durch die Beihilfe zur Selbsttötung Gewaltsuizide verhindert werden. Das stimmt nicht. Überall, wo Regelungen für medizinisch geförderte Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen geschaffen werden, kommen diese Toten zu den anderen Suizidenten hinzu. Mit einer steigenden Tendenz. In den Niederlanden gab es zwischen 2016 und 2022 bei den durch Ärzte verursachten Todesfällen ein Plus von über 43 Prozent! Derweil nimmt die Rate der „normalen“ Suizide, etwa durch Schusswaffen, Stürze aus großer Höhe oder das Werfen vor Schienenfahrzeuge, nicht ab. Nirgends. Nicht in den Benelux, nicht in der Schweiz, nicht in Oregon.
Sie haben die Sorge geäußert, dass aus der Legalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung irgendwann die „Pflicht zur Selbsttötung“ resultieren könnte. Woher kommt diese Befürchtung?
Es gibt ein gutes Buch von Gerbert van Loenen: „Das ist doch kein Leben mehr!“ Der Autor schildert, was selbst Nachbarn und Freunde sagten, als sein Lebensgefährte einen Hirntumor hatte: „Das muss doch nicht sein, der kann doch die Spritze kriegen.“ Ich selbst habe während meiner Arbeit mit behinderten Kindern von allen, wirklich allen Eltern gehört, dass sogar wildfremde Leute auf der Straße ihnen sagen: „Das hätte doch nicht sein müssen.“ Das schockiert mich, aber dieses Klima kommt. Es gibt Kulturen, in denen ist die Tötung von „Überflüssigen“ üblich, aber das ist nicht meine Ethik. Wir müssen uns fragen: Welche Ethik wollen wir in Deutschland eigentlich haben? Auf welchem Menschenbild wollen wir unsere Gesetzgebung aufbauen? Ich glaube, das verschiebt sich gerade. Wenn man die Selbsttötungshilfe oder die Tötung auf Verlangen zur Normalität macht – denn Regeln schaffen Normalität – dann muss man sich fragen, ob dann nicht auch das Gefühl der Pflicht dazu entsteht. Das ist auch, was ich höre von meinen Patienten: Die wollen keinem zur Last fallen.
Ist die Sorge, eine Last zu sein, für Palliativpatienten ein größeres Problem als Schmerzen oder Einschränkungen?
Ja, definitiv. Viel größer. Es gibt nur sehr wenige Krankheiten mit wahnsinnigen Schmerzen, die man kaum in den Griff bekommt. Die Schmerzen, die in der Debatte vorgeschoben werden bei Krebspatienten, die kriegt man nahezu alle lindernd in den Griff. Es ist bloß so, dass diese Patienten in Deutschland nicht ausreichend gut behandelt werden. Wenn die Gabe von Opioiden sachgerecht durchgeführt wird, symptomorientiert, beobachtend, die Dosis anpassend, dann führt sie nicht zu einer indirekten Sterbehilfe, sondern eher zu einer Lebensverlängerung, weil der Mensch weniger leidet und mehr Energie hat. Ein Problem ist, dass die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichend bekannt sind. Hinzu kommen Linderungsverhinderungsmaßnahmen, die dazu führen, dass gerade in Pflegeeinrichtungen Menschen völlig unangemessen lange leiden. Wenn Sie Krebsschmerz haben, der schlimmer geworden ist, und es ist gerade Wochenende, dann werden Sie vermutlich erst am Montag oder Dienstag vernünftig behandelt werden. Vorher ist kein kompetenter Arzt da, und wenn erst einmal einer da ist, sind noch keine Medikamente da. In Pflegeeinrichtungen ist für Notfälle oder nicht ganz klar vorhersehbare Fälle regelhaft kein Medikament verfügbar. Pflegeheimbewohner dürfen nur Medikamente bekommen, die genau ihnen selbst ein Arzt verordnet hat. Es gibt dort keine Notfall-Apotheke für alle, wie es sie auf jedem Schiff, im Hospiz, in der Arztpraxis und in jeder Hausapotheke gibt. Das muss sich ändern, das kann man auch ganz schnell ändern, man muss es aber wollen. Die Deutsche PalliativStiftung mit der Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung versuchen, das zu ändern, aber es betrifft die Dispensierhoheit der Apotheker, deswegen sind das dickste Bretter, die es hier zu bohren gilt.
Noch ein Blick auf die Meinung der Patienten. Man findet online relativ leicht Kranke, die fordern, eines Tages Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu könne, aber keine, die sagen, dass sie sich wünschen, dass ein entsprechendes Gesetz nicht kommt, weil sie sich davon unter Druck gesetzt fühlen würden.
Viele Palliativpatienten, die behandelt werden wollen, sind zu schwach, um sich zusammenzuschließen und zu äußern. Und die, die in den Medien so aktiv Pro „Sterbehilfe“ sind, empfinden sich meiner Meinung nach als Missionare und wollen etwas durchsetzen. Sie verbreiten häufig Fake News, sie könnten es ja jetzt schon oder hätten schon längst gekonnt, auf vielerlei Weise.
Nicht jeder, der sein Leben beenden möchte, ist dazu in der Lage, das zu tun.
Der Engländer hat einen wunderschönen Rechtsgrundsatz: „Hard cases make bad law.“ Das, worüber in diesem Zusammenhang öffentlich gesprochen wird, sind wenige Einzelfälle. Die kann man nicht regeln. Das, was nachher gemacht wird, ist eine Regelung für alle, und die ist unangemessen weit gefasst und wird meiner Meinung nach zu einer weiteren Ausweitung führen. Ich glaube nicht, dass wir das aufhalten können, aber vielleicht können wir es verzögern. Vielleicht ändert sich die Gesellschaft irgendwann. Wir können nur aufklären, damit die Menschen wissen, was möglich ist, und sich irgendwann entscheiden.
Sie sagen, die Möglichkeiten der Palliativmedizin seien nicht ausreichend bekannt. Woran liegt das?
Palliativmedizin sollte von Anfang an, mit ständigen Wiederholungen, in jede Ausbildung im medizinischen Bereich gehören. Derzeit gibt es das Thema nur schwerpunktmäßig, tageweise. Das rauscht vorbei, ist spannend und dann vergessen. Das Wissen um diese Möglichkeiten gehört aber auch nicht nur in die Expertenhand. Viel einfacher wäre es, das Volk aufzuklären. Wie die Beispiele „Deutschland sucht den Impfpass“ oder „Mich juckt's im Schritt“. Solche Kampagnen gehören breitgestreut und jährlich wiederholt unters Volk, damit die Menschen wissen, was sie fordern und erwarten können an Leidenslinderung. Dafür sollte man bundesweit jährlich 20 bis 50 Millionen Euro ansetzen. Das klingt viel, entspricht aber dem Volumen anderer Kampagnen, und es sind 50 Cent für jeden Deutschen. Das ist nicht einmal eine Postkarte an jeden.
In einem Gesetzesentwurf war die Rede davon, dass es nicht um psychische Probleme gehen darf. Ist das gerecht?
Das ist nicht gerecht und wird in keiner Weise Bestand haben. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: „Krankheit darf kein alleiniger Grund sein.“ Beliebige Gründe können dazu führen, dass ein Mensch sagt: „Ich möchte nicht mehr leben.“ Liebeskummer eines 18-Jährigen würde eigentlich ausreichen. Das ist überspitzt gesagt, aber diese Dinge müssen wir ausbuchstabieren, denn sobald wir Regeln schaffen, wird auch jemand kommen und sagen: „Hier müssen wir noch eine Ausweitung schaffen.“ Was in den Medien komplett untergegangen ist: Sehr viele Bürger, einige Politiker wollen nicht nur die Suizidassistenz, sondern auch die Tötung auf Verlangen. Und ohne Verlangen. Das kann jemanden treffen, der sich nicht mehr äußern kann, wenn sein Betreuer sagt: „Der hätte das nie gewollt, bitte töten Sie ihn.“ In den Niederlanden und Belgien werden mittlerweile auch Demente getötet. Vor fünf Jahren war das noch undenkbar, mittlerweile kommt es.
Zur RechtslageDer Paragraph 217 des Strafgesetzbuches stellt die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe. Nach Einordnung des Bundesverfassungsgerichtes von 2020 ist diese Regelung jedoch verfassungswidrig. Die Begründung der Verfassungsrichter: Das im Grundgesetz verankerte Persönlichkeitsrecht schließe das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein und auch, dass dafür die Hilfe von Dritten in Anspruch genommen werde. Die Richter empfahlen daher dem Gesetzgeber, eine neue Regelung zu verabschieden. Zwei Gesetzesentwürfe, die Hilfe zur Selbsttötung unter gewissen Voraussetzungen legalisiert hätten, wurden in der vergangenen Woche bei einer Abstimmung im Bundestag abgelehnt. Aktuell gibt es daher keine klare Rechtslage, sondern nur ein Gesetz, das höchstrichterlich als verfassungswidrig eingestuft wurde. (jot)