Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Prominenter Philosoph im GesprächWie funktioniert Populismus, Herr Professor Gabriel?

Lesezeit 7 Minuten
Frühjahrsempfang des Rhein-Sieg-Kreis und der Zeitungen rhein-Sieg Rundschau, Rhein-Sieg-Anzeiger und Bonner Rundschau im Kreishaus in Siegburg.

Der Bonner Philosoph und Autor Prof. Dr. Markus Gabriel im Gespräch mit Chefredakteur Raimund Neuss

Im Gespräch: Prof. Markus Gabriel lehrt Epistemologie, Moderne und Zeitgenössische Philosophie an der Universität Bonn

„Die letzte Bundesregierung hat die gesellschaftliche Spaltung massiv unterschätzt, die wir in Deutschland haben“, sagt der Bonner Philosoph Markus Gabriel. Ein Gespräch über Angriffe auf unser demokratisches System, über die Folgen der Corona-Pandemie und die Chancen und Gefahren sozialer Netzwerke.

Herr Professor Gabriel, jeden Tag kommen neue verstörende Nachrichten aus den USA, es gibt auch immer wieder Interventionen von US-Politikern wie Vizepräsident JD Vance in die deutsche Innenpolitik – aber lassen Sie uns zunächst einmal über einen etwas länger zurückliegenden Beitrag von Vance reden: Seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Er drohte, den Europäern den US-Schutz zu entziehen, weil sie die gemeinsamen Werte nicht mehr teilten. Nämlich Freiheit und Demokratie. Das heilige Prinzip der Demokratie sei es, dass die Stimme des Volkes zähle, sagte er. Dagegen kann man doch wenig einwenden, oder?

Das beschreibt zunächst einmal die Staatsform, in der wir leben. Demokratie heißt: Wir sitzen alle in einem Boot. Wir sind buchstäblich eine Schicksalsgemeinschaft. Nun stellt sich in jedem demokratischen Staat immer wieder die Frage, wie lösen wir dieses oder jenes konkretes Problem? Die Aufgabe von Politik ist es, gute Gesetze zu machen. Lösen sie die Probleme nicht, dann können wir zurückrudern. Neue Gesetze machen. Eine Regierungsmehrheit abwählen. Versuch und Irrtum. Das ist der Wert von Demokratie.

Dann frage ich weiter: Was ist das Volk? Herr Vance beruft sich darauf, dass er vom Volk gewählt sei. Aber das war eine Mehrheitsentscheidung, es gibt halt auch eine Minderheit. Die hat nicht für ihn gestimmt.

Genau diese Diversität und Meinungspluralität sind ja der Strukturvorteil von Demokratien. Wenn ein Vorschlag scheitert, dann macht jemand einen neuen. Demokratie dient dem Finden besserer Lösungen. Das hat schon der französische Aufklärer Nicolas de Condorcet im 18. Jahrhundert als die Rechtfertigung von Demokratien festgehalten. Seine Thesen hat man an der Harvard-Universität, die die US-Administration jetzt so bekämpft, besonders gut erforscht und auf neue Weise begründet. Wenn man die Meinungspluralität unterminiert, indem man Meinungen in Bahnen lenkt (durch Filterblasen oder digitale Bots, die Gruppenmeinungen produzieren), legt man die Grundfunktion einer Demokratie lahm. Und genau das passiert derzeit in sozialen Netzwerken. Wenn Sie bei einer derartigen Vernetzung bestimmte Größen erreichen, können Sie die Meinungsbildung relativ leicht manipulieren. Das Prinzip solcher Netzwerkeffekte hat der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Arrow erforscht und dafür schon 1972 den Nobelpreis erhalten. Die Betreiber heutiger sozialer Netzwerke und die theoretischen Köpfe hinter einem JD Vance kennen all diese Mechanismen genau.

Also: Man tritt mit einem Satz auf, der auf den ersten Blick stimmt – aber dahinter steht etwas ganz Anderes. So funktioniert Populismus.

Ich hake mal beim Punkt Diversität ein. Die AfD fordert bekanntlich ein „Deutschland, aber normal“. Manche Leute finden, wir treiben es mit der Diversität zu weit. Ich denke an unsere Diskussion übers Gendersternchen. Oder in den USA den Kulturkampf um gendergerechte Toiletten. Ist es da nicht zu verstehen, wenn Leute sagen, die große Mehrheit, sozusagen die Gruppe der Normalbürger, muss mehr Gewicht haben als alle möglichen Partikularinteressen und Diversitätsanmeldungen?

Natürlich ist eines wahr: Politik darf die Interessen einer breiten Mehrheit nicht einfach missachten. Populisten nehmen aber so eine Wahrheit und vergiften sie ein bisschen. Man sagt, das mit dem Gendern sei übertrieben, aber eigentlich hält man es zum Beispiel für fragwürdig, dass Frauen überhaupt arbeiten gehen. So etwas findet man bei einigen der Extremisten hinter JD Vance. Oder man spricht über Rassismus gegen Weiße. Den gibt es. Aber es gibt in Südafrika keinen Genozid an Weißen, auch wenn Donald Trump das behauptet. Also: Man tritt mit einem Satz auf, der auf den ersten Blick stimmt – aber dahinter steht etwas ganz Anderes. So funktioniert Populismus. Vance forderte in München Meinungsfreiheit, aber nur, um Meinungen zu unterdrücken, die ihm nicht gefallen.

Wie definieren Sie Populismus?

Der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan Werner Müller hat das sehr gut erklärt: Populismus liegt vor, wenn eine Gruppe behauptet, sie sei das Volk. Ob diese Gruppe in der Mehrheit ist oder in der Minderheit, ist einerlei, entscheidend ist: Eine Teilmenge des Volkes, die ja per Definitionem nicht das Volk als Ganzes sein kann, setzt sich mit dem Volk insgesamt gleich. Und diese Gleichsetzung wird dann genutzt, um der betreffenden Gruppe Ressourcen zuzuschustern. Von symbolischer Aufwertung bis hin zu echten Dollars.

Freiheit bedeutet für diese Leute die absolut gesicherte Monopolstellung einiger weniger Tech-Unternehmen. Am liebsten würden sie den ganzen Staat durch eine Art Unternehmen ersetzen.

Der zweite Leitbegriff der Münchner Vance-Rede war Freiheit. Interessant beim Vertreter einer Administration, die Universitäten drangsaliert und Medien von Pressekonferenzen ausschließt, wenn sie nicht über den Golf von Amerika schreiben wollen. Was bedeutet Freiheit für Leute wie Vance?

Schauen wir uns doch mal an, wer da wen antreibt. Bei Trump gibt es die Vermutung, dass wir es einfach mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu tun haben. Bei Vance müssen wir uns die intellektuelle Feuerkraft anschauen, die hinter ihm steht, wozu äußerst kluge, aber dem demokratischen Liberalismus nicht zugeneigte Köpfe wie der einflussreiche Peter Thiel und sein Netzwerk gehören. Es gibt eine große Gruppe, die unter dem Titel der Dunklen Aufklärung arbeitet. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Elon Musk keine rote Kappe mit dem Schriftzug Maga, also Make America Great Again, trägt, sondern eine schwarze? Darin sehe ich  einen Bezug auf die Bewegung des Dark Enlightment, die Dunkle Aufklärung. Peter Thiel hat in der Financial Times die Rückkehr Trumps ins Weiße Haus als Beginn der Apokalypse gefeiert, denn er will das Ende der Nationalstaaten und ist auch kein Freund freier Märkte. Freiheit bedeutet für diese Leute die absolut gesicherte Monopolstellung einiger weniger Tech-Unternehmen. Am liebsten würden sie den ganzen Staat durch eine Art Unternehmen ersetzen. Wie sehen dabei gerade eine plutokratische Elitenbildung wie im Russland der Jelzin-Ära.

Was macht solche Ideen in Deutschland interessant?

Die letzte Bundesregierung hat die gesellschaftliche Spaltung massiv unterschätzt, die wir in Deutschland haben. Es gab während der Pandemie eine starke Polarisierung und eine große Gruppe von Menschen, die glaubten, sie hätten ganz besondere Nachteile. Das konnte auf echten Verlusten durch die Pandemie oder die Maßnahmen beruhen oder auch nur eingebildet sein. Viele kommen bis heute über politische Entscheidungen während der Corona-Pandemie nicht hinweg. Und jetzt finden sie, sie seien auch mal dran. Ein Politikwechsel nach einer Wahl reicht ihnen nicht. Die Regierung Merz macht einiges anders als die Vorgänger. Aber das genügt diesen Unzufriedenen nicht, für sie muss eine Revolution her. Für sie ist eine Struktur interessant, wie Trumps Leute sie versprechen. Eine, in der vermeintlich wie in einem Unternehmen etwas durchgesetzt wird. Das ist zwar zum Scheitern verurteilt, denn kein Unternehmen funktioniert in Wirklichkeit so. Und der Staat ist ohnehin kein Unternehmen, sondern eben eine demokratische Organisation. Gerade deshalb ist diese Ideologie so gefährlich.

Was kann man denn tun, um die Polarisierung zu verringern?

Erst einmal: Vorsicht mit allen Versuchen, etwa durch Gesetze gegen Falschinformationen den Eindruck zu erwecken, man wolle unliebsame Meinungen wegzensieren. Das wäre ein Brandbeschleuniger. Stattdessen sollte sich die Politik damit befassen, dass wir in der Digitalwirtschaft fast vollständig von den USA abhängig sind. Das ist unter Umständen noch gefährlicher als die Abhängigkeit von russischem Gas, die wir bis 2022 hatten. Denn die digitale Abhängigkeit betrifft den Kern der Demokratie, die Debattenkultur, deren Ziel das Finden guter Lösungen ist. Wir müssen da unabhängig werden. Das ist ein gigantisches Unterfangen, aber für Deutschland als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt steckt darin auch ein erhebliches Potenzial.

Letzten Endes brauchen wir ein europäisches soziales Netzwerk. Das funktioniert nur, wenn große und kleine Medienunternehmen zusammenarbeiten.

Bei der Luftfahrtindustrie waren die Europäer einst im Rückstand, und dann haben sie Airbus gegründet. Brauchen wir einen europäischen Cyber-Airbus?

Letzten Endes brauchen wir ein europäisches soziales Netzwerk. Das funktioniert nur, wenn große und kleine Medienunternehmen zusammenarbeiten. Dann könnte etwas entstehen, das an die Bedeutung herankommt, die Twitter zu bessern Zeiten hatte. Ich habe selbst gerade ein Unternehmen gegründet, das ein neuartiges soziales Wissensnetzwerk entwickelt, das auf ganz anderen Prinzipien als die derzeit gängigen basiert. Wir haben zurzeit das Problem, dass es kaum europaweite Debatten gibt. Wissen wir Deutschen, was derzeit in Frankreich diskutiert wird? Und umgekehrt? Kommen wir über die Sprachbarrieren hinweg? Das lässt sich alles unternehmerisch lösen. Ja, wir brauchen den Cyber-Airbus und können dafür dann auch einen paneuropäischen Markt mit verschiedenen Angeboten schaffen.

Die meisten deutschen Zeitungshäuser, auch unseres, sind mittelständische Familienunternehmen. Können die mit Telekom und SAP mithalten?

Das kann funktionieren. Zusammen mit den Universitäten, nehmen Sie allein einmal die Region Köln-Bonn-Aachen. Dann, ja, mit einem Konzern wie der Telekom. Und nach Walldorf zu SAP ist es auch nicht so weit. Wichtig wäre es, dass die Politik das koordiniert. Nicht im Sinne eines Staatsprogramms wie in China, sondern im liberalen, marktwirtschaftlichen Sinne. Das hat in den USA ja auch funktioniert, was sollte uns daran hindern, das selbst in die Hand zu nehmen und neue soziale Netzwerke und andere digitale Systeme zu bauen. Das wird dank KI jetzt ohnehin dringend notwendig.

Können Cyber-Steuern helfen?

Eine Besteuerung der Gewinne, die ausländische Digitaldienstleister hier mit ihren sozialen Medien einfahren, ist einfach eine Frage der Gerechtigkeit. Es war ein schwerer Fehler, sie nicht angemessen zu besteuern. Aber ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen: Wenn Sie oder ich etwas auf US-amerikanischen oder chinesischen Netzwerken veröffentlichen, dann arbeiten wir für diese Netzwerke. Wir versorgen sie mit Inhalten und damit Daten. Und wir bekommen dafür noch nicht einmal den deutschen Mindestlohn. Und stellen Sie sich mal vor, man bekäme Mindestlohn, wenn man auf Open AI herumspielt und damit den Thesaurus dort füttert.

Also meinen Sie unterm Strich mit Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch?

Ich bin tatsächlich recht zuversichtlich. Im Chinesischen und im japanischen Kanji-Zeichensatz schreibt man das Wort für Krise mit zwei Zeichen: Gefahr und Gelegenheit. Eine Krise bedeutet immer beides. Wir können neue Partnerschaften finden, Koalitionen der Willigen. Indien möchte mit uns zusammenarbeiten, Japan und viele Länder in Afrika oder Lateinamerika. Der Europäische Wirtschaftsraum ist das Herzstück der Weltwirtschaft. Auf die Amerikaner können wir uns in der Tat nicht mehr verlassen.

Der Text ist die gekürzte Niederschrift eines Podiumsgespräch mit Prof. Markus Gabriel beim gemeinsamen Frühjahrsempfang 2025 des Rhein-Sieg-Kreises und der regionalen Tageszeitungen in Siegburg.