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KrankenhausdatenStarben viel mehr Menschen an Corona, als bisher geschätzt?

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Särge mit Leichen von Corona-Infizierten stehen in einem Krematorium in Giesen.

Särge mit Leichen von Corona-Infizierten stehen in einem Krematorium in Giesen.

Krankenhaus-Abrechnungen zeigen deutlich höhere Todeszahlen als die RKI-Statistik. Experten sprechen von einer hohen Dunkelziffer und kritischen Lücken in der Datenerfassung. Die Diskrepanz stellt Deutschlands Pandemie-Bilanz infrage.

Wenn es in Deutschland um Covid-19 geht, um die Pandemie und ums Sterben, dann ist nicht einmal der Tod mehr eine feste Größe. 188.510 Corona-Todesopfer zählt das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) bis heute. Damit belegt Deutschland im weltweiten Sterberanking einen der hinteren Plätze im globalen Mittelfeld, hinter Schweden, das mit einer deutlich weniger restriktiven Corona-Politik auskam.

Verheerender als in Deutschland fiel die Bilanz in Italien oder den USA aus, die vor allem in der Anfangszeit 2020 mit drastischen Katastrophen-Bildern aus Bergamo oder New York schockierten. Für die Bundesregierung ist die Sache daher klar. „Deutschland ist gut durch die Pandemie gekommen“, lobten die verantwortlichen Gesundheitsminister der Corona-Jahre, Jens Spahn und Karl Lauterbach, gemeinsam mit Franziska Hoppermann, der Vorsitzenden der Enquête-Kommission des Bundestags. Doch stimmt das auch?

Blamage der deutschen Pandemie-Politik?

Andere Berechnungen kommen zu anderen Todeszahlen als das RKI. Politisch könnten diese Zahlen allerdings eine Blamage der deutschen Pandemie-Politik bedeuten, den Absturz auf das Niveau von Ländern wie Brasilien, Italien oder Großbritannien. Und das, obwohl den Deutschen unvergleichlich längere und strengere Maßnahmen und gewaltige Staatsausgaben zugemutet worden waren.

So liegt dieser Redaktion die Zahl der Covid-Todesfälle vor, die die Kliniken bei den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet haben. In den deutschen Krankenhäusern verloren etwa 90 Prozent aller tödlich erkrankten Covid-Patienten ihr Leben.

Laut den Abrechnungsdaten der Krankenhäuser (Institut des Entgeltportals der Krankenhäuser Inek) waren von 2020 bis 2024 rund 216.000 Covid-Tote geltend gemacht worden. Hinzu kommen noch knapp 28.000 offiziell bestätigte Todesfälle in Pflegeeinrichtungen, Obdachlosenunterkünften oder Gefängnissen.

83.000 Tote mehr

Unterm Strich summieren sich in dieser Rechnung 244.000 Covid-19-Todesfälle in Deutschland. Die verstorbenen Privatversicherten hinzuaddiert, läge die Zahl der Todesopfer durch Sars-CoV-2 in Deutschland bei geschätzt 265.000 bis 270.000. Das sind 83.000 Tote mehr als bei der Zählung des RKI. Die beachtliche Differenz erklärt die Behörde gegenüber dieser Redaktion mit unterschiedlichen „Definitionen für einen Covid-19-Todesfall“. Die Zahlen ließen sich nicht vergleichen.

Doch bei genauerem Hinsehen fallen die Unterschiede kaum ins Gewicht. Das RKI zählt die Fälle, „bei denen ein laborbestätigter Nachweis von Sars-CoV-2 vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind“. Ganz ähnlich die Krankenhäuser: Sie registrierten in ihren Abrechnungen alle positiv Getesteten, die zeitnah starben.

Was in der Darstellung von Regierung und RKI eine mustergültige Datenerhebung gewesen sein soll, war in der Realität der Pandemie ein Tohuwabohu von dysfunktionalen, sogar gegeneinander gerichteten Verwaltungs-Bürokratien. So nahm man das jedenfalls in den Gesundheitsämtern wahr.

Gesundheitsamt sieht hohe Dunkelziffer

Dort ist auf Nachfrage gegenüber dieser Redaktion von einer hohen Dunkelziffer die Rede. Auf einem Fachkongress hatten Vertreter des Gesundheitsamts Frankfurt, eines der größten in Deutschland, die Karten auf den Tisch gelegt. In einem Bericht des Amtes aus dem Pandemiejahr 2023 heißt es: „Mit zunehmender Tendenz im Laufe der Pandemie sind 25 bis 40 Prozent der im Leichenschauschein vermerkten, durch Covid-19 oder in zeitlichem Zusammenhang damit aufgetretene Todesfälle nicht gemeldet worden.“ Das Zitat könnte eine Erklärung dafür sein, warum die RKI-Statistik so viel weniger Tote listet. Zu den verlässlicheren Berechnungen der Covid-Toten in Deutschland zählt auch eine Statistik, die eine überraschend niedrigere Corona-Mortalität ausweist. Die Berechnung setzt da an, wo die Pathologie ihre Lehren aus der Pandemie zog. Eine davon besagt, dass die meisten Menschen in der Pandemie an tödlichen Lungenschäden starben, an „Covid-19-Pneumonie“ oder auch „Acute Respiratory Distress Syndrome“, ARDS.

Erstaunlich, dass gerade diese Diagnosen sich in den Abrechnungsdaten der Krankenhäuser eher selten wiederfinden. Lediglich 38.000 Todesfälle durch Covid-19-Pneumonie sind für 2021 verzeichnet, 2022 knapp 20.000 Fälle, 2023 nur noch wenige Tausend. Demnach wären nur etwa 100.000 Menschen in Deutschland an Corona gestorben, die Toten in den Pflegeheimen eingerechnet.

Warum ist diese Zahl so niedrig?

Die Suche nach den Gründen führt zu einer extrem heiklen Frage. Wäre es denkbar, dass bei den chronisch klammen Krankenhäusern ein finanzielles Motiv mit hineingespielt haben könnte in diese verdächtig schmächtige Totenzahl?

Sterblichkeit deutlich höher„Die Pneumonie ist keine besonders ertragreiche Diagnose, richtig viel Geld gibt es erst für Beatmung“, erklärt der Moerser Lungenspezialist Thomas Voshaar. Voshaar weiß, wovon er spricht, er ist Vorsitzender des Verbandes der Lungenkliniken in Deutschland: „Die stationären Behandlungskosten liegen durchschnittlich bei 5000 Euro, maschinelle Intensivbeatmung kann dagegen mit 38.500 Euro abgerechnet werden, im Einzelfall sogar mit 70.000 Euro.“

Hinzu kommt, dass die Sterblichkeit auf deutschen Intensivstationen bis zu dreimal höher lag als in anderen EU-Ländern. Schuld daran, so Voshaar, seien der exzessive Gebrauch von Lungenmaschinen und die frühe künstliche Beatmung gewesen. „Deutschland hat zwar finanziell und technisch geklotzt“, so Voshaar, „dennoch stehen wir bei den Behandlungserfolgen in den Krankenhäusern nicht besser da als schwächer ausgerüstete Länder wie Frankreich oder Großbritannien.“

Genaue Zahl zu schwierig zu ermitteln

Wie viele Menschen tatsächlich in Deutschland an Corona gestorben sind, lasse sich wohl niemals endgültig klären, glaubt Voshaar, „aussagekräftiger als die Krankenhauszahlen ist die Übersterblichkeit“. Doch auch diese Ziffern liefern keinen Begriff davon, wie groß der Friedhof der Corona-Toten tatsächlich angelegt werden muss.

Denn auch nach der Pandemie ist das Sterben an Corona oder den Folgen nicht beendet. Während die Übersterblichkeit in Deutschland – also die Sterbezahlen im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie – von 2021 bis 2022 zwischen 30.000 und 68.000 zusätzlichen Toten jährlich lag, stieg sie 2023 auf 100.000.

Die Gründe für diesen drastischen Anstieg der Sterbezahlen nach dem Ende der Pandemie sind ungeklärt. Experten spekulieren mit Grippe- oder Hitzewellen, die hineingespielt haben könnten, oder auch wegen der Lockdowns aufgeschobene Herz-OP und Vorsorgeuntersuchungen.

In Deutschland rechnet das Statistische Bundesamt damit, dass die Aufarbeitung der Sterbeursachen noch Jahre dauern werde. „Entsprechende Veröffentlichungen, die hier mehr Klarheit bringen können, liegen derzeit noch nicht vor“, heißt es. In England fasste der Historiker Lord Jonathan Sumption die Lage in „The Times“ so zusammen: „Nach und nach wird die Wahrheit über den Lockdown zugegeben. Es war eine Katastrophe.“

Dieser Text erschien zuerst in der „Neuen Zürcher Zeitung“.