Lage in der UkraineWie Kiew sich um Normalität bemüht

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Dichter Verkehr drängt sich in der Chreschtschatyk-Straße in Kiew.

Dichter Verkehr drängt sich in der Chreschtschatyk-Straße in Kiew.

Die ukrainische Armee sucht Freiwillige für Front. Wir zeigen, wie die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt dem Krieg trotzen.

Kiews Plattenbauten und Wolkenkratzer wirken in diesen trüben Märztagen trist und grau, der Himmel ist bedeckt, noch ist der Frühling nicht da. Aber es wird immerhin wärmer. Vor der ehemaligen russischen Botschaft stehen die ukrainischen Sicherheitskräfte nicht mehr in Winterjacke. Die diplomatische Vertretung wurde bereits am 23. Februar 2022 geräumt, also einen Tag vor dem Angriffsbefehl aus dem Kreml.

Was die Menschen in Kiew denken, drücken die Bilder am Eisenzaun der Botschaft aus. Sie erzählen von zerstörten Häusern, Dörfern und Städten. Am Eingang hängt ein Plakat, das den russischen Präsidenten Wladimir Putin zeigt – mit einem Strick um den Hals.

Kiew wäre im Januar beinahe evakuiert worden

Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hatte im Januar noch überlegt, die Evakuierung der Drei-Millionen-Metropole in Betracht zu ziehen, wie er kürzlich in einem Interview preisgab. Damals fiel wegen des anhaltenden Raketenbeschusses auf die Infrastruktur zeitweise bis zu 14 Stunden lang der Strom aus. Es gab weder warme Heizungen noch Internet, Fernsehen und Telefon. Jetzt konnten die Versorger für Entwarnung sorgen: Sollte es zu keinen weiteren erfolgreichen russischen Großangriffen kommen, dürfte die Stromversorgung gesichert sein. Einen großen Beitrag zum besseren Schutz des Luftraums hat das deutsche Luftverteidigungssystem Iris-T geleistet. Die Bundesregierung hatte es im vergangenen Herbst geliefert. Klitschko sagt, das habe Tausenden Menschen das Leben gerettet.

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Dima Chepurko hat den Krieg an der Front erlebt. Man sieht es in seinen Augen, dass der 38-Jährige nicht gerade von einer Traumreise nach Kiew zurückgekommen ist. In einer Tankstelle im Stadtzentrum trinkt er mit seinem Freund Anatoli Pskow einen Kaffee. Er war monatelang in der Region von Bachmut eingesetzt, wie der Offizier erzählt. Viel will er nicht dazu sagen, was er erlebt hat. Nur so viel, dass er zweimal ein Knalltrauma erlitten habe, als Granaten in nicht allzu weiter Entfernung eingeschlagen seien. Weil seine Frau ihn und seinen Sohn verlassen habe, wolle er nun in Kiew bleiben, sagt Chepurko. „Ich kann ja meinen zehnjährigen Sohn nicht allein lassen.“

Ukraine-Krieg: In Kiew kehrt langsam der Alltag zurück

Im Straßenbild ist der Krieg in Form von Barrikaden und Patrouillen noch gegenwärtig, aber der Alltag kehrt zurück. In Vororten wie Butscha oder Irpin schreitet der Wiederaufbau der zerstörten Gebäude voran. Auch der Sky-Walk am Fluss Dnipro ist wieder geöffnet, der im Zuge eines Luftangriffs beschädigt worden war. Auf den Promenaden entlang des Dnipro sind etliche Männer und Frauen in Armeekleidung zu sehen. In dem alten Stadtviertel Podil dreht sich ein Riesenrad, Familien bummeln und vertreiben sich die Zeit. Die Restaurants und Bars sind am frühen Abend gut besucht.

Wer allerdings das Kiewer Nachtleben von früher sucht, wird enttäuscht. „Ein Nachtleben gibt es nicht mehr“, sagt Iryna Titovska. Die 28-Jährige arbeitet im „Peppers Club“. Seit Putins Angriff herrscht in der ukrainischen Hauptstadt eine Ausgangssperre. Pubs, Diskotheken und Clubs müssen um 21.30 Uhr schließen. Im „Peppers Club“ gibt es Livemusik, erst Country, dann Hardrock. Der Laden ist voll. Vor der Bühne tanzen Frauen und ein Mann mit Cowboy-Hut. Es ist noch früh am Abend. Als die Eilmeldungen auf die Handys kommen, Putin wolle im benachbarten Weißrussland Atombomben stationieren, interessiert das hier niemanden.

Links von der Bühne steht auf einem Riesenbildschirm die nächste Konzertankündigung. „Musik für den Sieg“ heißt das Motto. Vor der Bühne steht eine große Kiste. In die werfen die Gäste Geld als Spende für die Armee hinein. Auf diese Weise seien fast schon 30000 Euro zusammengekommen, erzählt Iryna Titovska.

Anatoli Pskow geht an diesem Abend zum ersten Mal Mal seit Kriegsbeginn vor mehr als einem Jahr wieder aus. Eigentlich arbeitet er als Taxi-Fahrer, doch vor wenigen Tagen erhielt er einen Anruf von der Armee. Angesichts der hohen Verluste auch auf ukrainischer Seite verstärkt die Ukraine ihre Bemühungen, wehrfähige Männer einzuziehen.

Zu Beginn von Putins Überfall hatten sich noch viele freiwillig gemeldet, doch nun scheint die Zahl der mutigen Helden nicht mehr auszureichen. „Sie fragten, ob ich zum Militär will“, sagt der 46-Jährige. Nein, Angst habe er keine. „Ich glaube, ich werde es machen, weil ich mein Land verteidigen möchte“, sagt Pskow. Später will er noch einen Freund per Videocall anrufen, der gerade an der Front bei Bachmut eingesetzt ist. Hier sterben fast täglich auf beiden Seiten Soldaten.

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