Gefühl der Ohnmacht vor Gericht?Warum Entscheidungen von Richtern nicht vorhersehbar sind

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Ein Angeklagter hält sich im Gerichtssaal eine rote Mappe vor das Gesicht

Öffentliche Verhandlungen können bei Angeklagten ein Gefühl der Ohnmacht hervorrufen. (Symbolbild)

Über die Entscheidung eines Gerichts lassen sich oft nur eingeschränkte Prognosen treffen. Der Grund dafür ist plausibel.

In Hamburg findet an diesem Wochenende der 45. Strafverteidigertag statt. Das Motto „Macht und Ohnmacht vor Gericht“ klingt spannend. Tatsächlich ist die Macht im Strafprozess ungleich verteilt. Macht hat das Gericht, sonst niemand.

Die übrigen Beteiligten haben Rechte: Staatsanwaltschaft und Verteidigung können Zeugen befragen, Anträge stellen, Rechtsmittel einlegen, ihre Rechtsauffassung darlegen. Am Ende aber entscheidet das Gericht.

Tony Rostalski

Tony Rostalski

Tony Rostalski ist Strafverteidiger in Köln und Partner einer auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht spezialisierten Kanzlei. Er beantwortet juristische Fragen in unserer Kolumne Recht und Ordnung.

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Die staatliche Macht, die durch Richterinnen und Richter (den sogenannten Spruchkörper) repräsentiert wird, ist allerdings gebunden. Sie endet dort, wo die grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte des Einzelnen und die prozessualen Garantien Grenzen setzen. Diese Grenzen werden durch die verfassungsmäßige Ordnung, durch Recht und Gesetz gezogen. Dem willkürlich agierenden Richter droht selbst Strafe wegen Rechtsbeugung, wenn er die ihm übertragene (Entscheidungs-)Macht vorsätzlich überschreitet.

Macht hat nicht per se Recht

Aufgabe der Verteidigung im Strafprozess ist es, auf diese Bindungen der Gerichte hinzuweisen, über ihre Einhaltung zu wachen und so die Interessen und Rechte des Angeklagten wahrzunehmen: Macht hat nicht per se Recht. Dementsprechend ist die Stellung der Verteidigung alles andere als „ohnmächtig“. Zur Wahrung der Interessen des Angeklagten hat sie prozessuale Mittel.

Ob das Gericht auf Anträge eingeht oder nicht, steht nicht in seinem freien Belieben. Es ist hierzu von Gesetzes wegen verpflichtet und muss seine Entscheidungen begründen. Hieraus leitet sich ein bedeutender Einfluss der Verteidigung auf den Prozess der Rechtsfindung ab. Auch im Strafprozess wird somit „verhandelt“ und der Fall „ausgefochten“.

Rechtsprechung „völlig unberechenbar“? Der Kampf ums Recht lohnt trotzdem

Dabei sind die Ergebnisse nicht immer mit Sicherheit prognostizierbar. Schon Max Alsberg, Strafverteidiger zu Zeiten der Weimarer Republik, konstatierte mit Blick auf die Revisionsgerichte: „Die Rechtsprechung ist so oft völlig unberechenbar. Selbst derjenige, dem die Revision keine ,Geheimlehre’ ist, kann nur selten die Aufhebung eines Urteils in der Revisionsinstanz mit Sicherheit voraussagen.“

Das gilt auch heute. Der Kampf um das Recht lohnt trotzdem. Denn der Umstand einer häufig nur eingeschränkten Prognostizierbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen ist kein Indiz für Willkür von Richterinnen und Richtern, sondern verweist auf den komplexen und nie abgeschlossenen Prozess der Rechtsfindung.

Die Erfahrung einer öffentlichen Verhandlung ist einschneidend

Den Zustand der Ohnmacht kann man in Ausnahmefällen am ehesten mit der Situation des Angeklagten in Verbindung bringen. Die Erfahrung, einer öffentlichen Verhandlung ausgesetzt zu sein, ist für die Betroffenen immer einschneidend. Mit der Hauptverhandlung ist ein Kommunikationsprozess verbunden, der den Betroffenen zur Wahrung des Rechtsfriedens planmäßig zugemutet wird.

Eine Hauptverhandlung kann darüber hinaus aber auch in hohem Maße psychisch belastend sein. Zu denken ist an Fälle, in denen der Angeklagte unschuldig oder sich keiner Schuld bewusst ist, womöglich überdies in Untersuchungshaft sitzt; Hauptverfahren, die sich über Wochen hinziehen und in denen der Angeklagte stundenlang Verhandlungen über Verfahrensgegenstände oder persönliche Verhältnisse verfolgen muss, die ausschließlich Mitangeklagte betreffen.

Solche Konstellationen können auch vor dem Hintergrund der hohen Formalisierung des Verfahrens ein Gefühl von Ohnmacht bei den Betroffenen im Sinne eines „passiven Ausgesetztseins“, eines Kontrollverlusts, hervorrufen. Es ist die Aufgabe der Verteidigung, sich schützend vor den Mandanten zu stellen und Belastungen zu verringern, wo immer es möglich ist.

Fest steht, dass Macht nicht notwendig zur Ohnmacht desjenigen führt, der mit ihr konfrontiert wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Macht eingehegt und – wie im Strafprozess – durch Verteidigungsrechte ausbalanciert wird. Es bleibt deshalb eine ständige rechtspolitische Herausforderung, den Verlockungen zum Abbau dieser Rechte mit dem Ziel einer vermeintlichen „Entlastung der Justiz“ zu widerstehen.

Dieser Text ist eine Folge unserer Rechtskolumne „Recht & Ordnung“. In dieser Serie schreiben Staatsanwältin Laura Neumann (Düsseldorf) sowie die Rechtsanwälte Martin W. Huff (ehem. Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln), Christian Solmecke (Partner der Kölner Medienrechtskanzlei WBS.Legal) und Thomas Bradler (Verbraucherzentrale NRW, Leiter Markt und Recht). In ihren Kolumnen geben sie Auskunft zu oft kniffligen Fragen des Rechts, können aber keine Rechtsberatung bieten oder in konkreten Fällen den Gang zu einem Anwalt ersetzen. Haben Sie eine Frage an unsere Experten? Dann schreiben Sie uns eine Mail an: recht-und-ordnung@kstamedien.de

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