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Kölner Jura-ProfessorinWie stark sollte das Recht Rücksicht auf vulnerable Gruppen nehmen?

Lesezeit 4 Minuten
Zwei Hände schützen ausgeschnittene Papiermännchen

Zunehmend bietet der starke Staat den Schwachen wie etwa Kranken, Menschen mit Behinderungen oder Geflüchteten Schutz.

Die Rechtsprechung ist sensibler geworden und sorgt sich mehr und mehr um die Interessen vulnerabler Personen – ist das gut so?

Spätestens seit den Corona-Jahren hat der Begriff der Vulnerabilität Konjunktur. Vulnerabel – in besonderer Weise verletzlich – waren in der Pandemie ältere und vorerkrankte Menschen. Vulnerabel sind in ganz anderen Zusammenhängen allerdings auch Opfer sexualisierter Gewalt, Geflüchtete, Transgender. Vulnerabel sind Lebensphasen, ärmere Länder, digitale Gesellschaften, die kritische Infrastruktur etc.

Frauke Rostalski

Frauke Rostalski

Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln.

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In all diesen Fällen dient die Bezeichnung „vulnerabel“ dazu, die besondere Schutzwürdigkeit des jeweiligen Interesses beziehungsweise der jeweiligen Personen oder Gruppen in den Fokus zu rücken. Auf die Einsicht in entsprechende Vulnerabilitäten folgt in den letzten Jahren immer häufiger die Ausdehnung des rechtlichen Schutzinstrumentariums.

Dem Schwachen bietet der starke Staat Schutz

Dem vulnerablen Einzelnen wird ein resilientes Recht entgegengesetzt. Anders gesagt: Dem Schwachen bietet der starke Staat Schutz. Beispiele dafür lassen sich in verschiedenen Bereichen der jüngeren Gesetzgebung aufzeigen wie etwa zur Ausweitung des strafrechtlichen Ehrschutzes, zu Sexualdelikten, der Suizidassistenz oder im (straf-)rechtlichen Umgang mit Gesundheitsrisiken. Sämtliche bereits umgesetzten oder diskutierten Reformen sind Ausdruck eines in Recht gegossenen Wertewandels, der die zunehmende gesellschaftliche Fokussierung auf Vulnerabilität beschreibt.

Alles zum Thema Christian Solmecke

Unser Recht ist selbst sensibler geworden; es sorgt sich mehr und mehr um die Interessen vulnerabler Personen. Hierbei handelt es sich um eine allgemein gesellschaftlich relevante Entwicklung, denn durch den verstärkten Schutz von Vulnerabilitäten geht Freiheit verloren. Und zwar die Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger, nicht bloß derer, die zu den „Stärkeren“ zählen. Zwar ist die Annahme verbreitet, hier komme es allenfalls zu einer Umverteilung von Freiheit – weg vom Starken hin zum Schwachen.

Auch dem Schwachen wird Freiheit genommen

Zutreffend ist dies allerdings nicht. Denn auch dem Schwachen wird Freiheit genommen, und zwar die Freiheit, eigenverantwortlich Risiken und Konflikte einzugehen. Immer dann, wenn sich der Staat durch Gesetze – bildlich gesprochen – zwischen die Menschen schiebt, hat dies zur Folge, dass Eigenverantwortung schwindet. Es mag sein, dass man diese Eigenverantwortung nicht will. Man mag es sogar begrüßen, dass sich der Staat dieses Quantum Freiheit nimmt.

Dies alles ändert aber nichts daran, dass es durch die Ausweitung staatlicher Regulierung zu einem Weniger an Freiheit auf allen Seiten kommt. Damit drängt sich die Frage auf: Wie viel Vulnerabilität verträgt unser Recht? Verletzlichkeit weist keine festen Grenzen auf. Sie lässt sich prinzipiell immer weiter ausdehnen und führt damit zu einer Ausweitung von Risiko-Wahrnehmung und Risiko-Aversion, die weit über das Bisherige hinausgeht. In einer freiheitlichen Demokratie wird stets um ein angemessenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit gerungen. Die Verfassung bietet für diese Ausbalancierung einen prinzipiell relativ weiten Rahmen.

Wie viel Freiheit will sich die Gesellschaft im sozialen Miteinander zugestehen?

Wachsende Vulnerabilitätsannahmen, wie sie unsere Gesellschaft seit einiger Zeit erlebt, verlagern das Gewicht auf die Seite der Sicherheit. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir wichtig, in eine Debatte darüber einzusteigen, in welchem Umfang Vulnerabilität um den Preis der Freiheit durch Gesetze geschützt werden soll. Wie viel Freiheit will sich die Gesellschaft im sozialen Miteinander zugestehen? Die Antwort ist nicht vorgezeichnet. Dass sie gefunden werden muss, erscheint mir allerdings angesichts der bereits vollzogenen und immer weiter voranschreitenden Veränderungen des Rechts in Richtung auf eine umfassende staatliche Regulierung von Risiken ganz unterschiedlicher Art besonders dringlich.


Veranstaltung frank&frei

Frauke Rostalski, Professorin für Straf- und Strafprozessrecht sowie für Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln, hat soeben die Streitschrift „Die vulnerable Gesellschaft“ (Beck-Verlag) vorgelegt. In der KStA-Talkreihe frank&frei diskutiert sie darüber mit dem Bonner Philosophen Markus Gabriel. Moderation: Joachim Frank. Dienstag, 9. April, um 19 Uhr Karl-Rahner-Akademie, Jabachstraße 4-8, 50676 Köln. Eintritt: 10 Euro (ermäßigt und mit Abocard 5 Euro). Anmeldung 0221/801078-0 oder per E-Mail: info@karl-rahner-akademie.de


Dieser Text ist eine Folge unserer Rechtskolumne „Recht & Ordnung“. In dieser Serie schreiben naben Frauke Rostalski die Staatsanwältin Laura Neumann (Düsseldorf) sowie die Rechtsanwälte Martin W. Huff (ehem. Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln), Christian Solmecke (Partner der Kölner Medienrechtskanzlei WBS.Legal),  Tony Rostalski (Partner der Frankfurter Kanzlei Rettenmaier) und Thomas Bradler (Verbraucherzentrale NRW, Leiter Markt und Recht).

In ihren Kolumnen geben sie Auskunft zu oft kniffligen Fragen des Rechts, können aber keine Rechtsberatung bieten oder in konkreten Fällen den Gang zu einem Anwalt ersetzen. Haben Sie eine Frage an unsere Experten? Dann schreiben Sie uns eine Mail an: recht-und-ordnung@kstamedien.de

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