Sein „Tag X“ ist lange her. Im Januar sind es 16 Jahre. Aber Matthias Gerschwitz (50) erinnert sich an diesen kalten, tristen Tag Anfang 1994, als wäre es letzte Woche gewesen. „Ich fühlte mich ziemlich unwohl“, berichtet der gebürtige Solinger, der zwei Jahre zuvor wegen der Wende und der Aufbruchstimmung nach Berlin gezogen war. Hier verdiente er damals sein Geld als Publikums-Betreuer bei TV-Talkshows, heute ist er als selbständiger PR-Experte tätig.
Gerschwitz wurde untersucht - ohne greifbares Ergebnis. „Tja, da müssen wir mal das Blut checken“, meinte der Arzt. „Da schoss es mir ganz spontan durch den Kopf“, erinnert sich Gerschwitz. „Ich sagte ihm, er solle einfach mal etwas mehr abzapfen, damit man gleich einen HIV-Test machen könne.“ Der Arzt fragte nicht nach. Vielleicht war ihm das peinlich.
Hätte es nicht sein müssen - Matthias Gerschwitz steht dazu, dass er homosexuell ist. Dass er dieser Haupt-Risikogruppe (neben den Drogenabhängigen) angehört. Damals, 1994, stellte Aids schon über zehn Jahre eine Bedrohung dar. „Trotz des Wissens um die Gefahren hatte ich mich nur halbherzig geschützt - mal ja, mal nein, je nach Situation und Laune“, gesteht Gerschwitz. „Ich war in meinem Leben immer irgendwie auf die Füße gefallen. Und so habe ich auch hier wieder auf mein Glück vertraut.“
Als eine Woche später das Testergebnis kam („Herr Gerschwitz, es tut mir leid, Sie sind HIV positiv!“) wurde ihm klar, wie unverantwortlich seine Einstellung gewesen war: „Viele - und weiß Gott nicht nur Schwule, auch viele ,brave Ehemänner, die fremdgehen - haben aber diese fatale Einstellung: ,Warum soll es gerade mich treffen? Und selbst wenn - die Medizin ist heute so weit, da gibt's bestimmt Pillen für mich! Wer so denkt, ist völlig auf dem Holzweg!“
Denn die Immunschwäche-Krankheit Aids (die erst ausbricht, wenn das Immunsystem des HIV-Infizierten zusammenbricht) forderte in Deutschland noch im letzten Jahr 650 Todesopfer. Rund 64 000 Menschen in unserem Land sind mit HIV infiziert, 24 000 mehr, als noch vor acht Jahren. Jedes Jahr, so stellte das Robert-Koch-Institut fest, kommen trotz aller Aufklärungs-Kampagnen, Warnungen und Appelle rund 3000 Neuinfizierte dazu.
Man kann die HIV-Infektion durch eine Therapie (die von vielen körperlichen und seelischen Nebenwirkungen begleitet wird) in Schach halten. Heilen kann man sie nicht.
Umso erstaunlicher, dass HIV und Aids im öffentlichen Bewusstsein scheinbar den Rückzug angetreten haben. Matthias Gerschwitz: „Die einen finden den Nervenkitzel toll, ungeschützten Sex zu haben. Andere sagen, Sex mit Kondom sei was für Weicheier. Es ist wirklich erschreckend, was ich zu dem Thema alles höre und im Internet lese. Selbst Kinder von Bekannten redeten kürzlich über Sex, als gäbe es überhaupt keine Geschlechtskrankheiten.“
Deshalb hat er seinen Alltag mit dem Virus, mit einem täglichen Berg von Tabletten (anfänglich waren es 50, heute sind es „nur“ noch 10), mit den ständigen Blut-Untersuchungen und der Angst vor einer neuen, schlechten Nachricht niedergeschrieben - offensiv und optimistisch, wie er es selbst ist: „Endlich mal was Positives“, hat er sein Buch, das ohne jede Betroffenheit auskommt, augenzwinkend genannt. „Natürlich ist an der Krankheit erstmal nichts positives“, erklärt er. „Aber es kommt doch darauf an, ob ich mich von ihr unterkriegen lasse. Und das tue ich nicht.“
Er schildert, wie nach einer von ihm betreuten Talkshow mit Krebs- und Aids-Kranken deren Angehörige wütend aufeinander losgingen. „Aids kriegt man nicht, Aids holt man sich“, hatte das Lager der Krebskranken gewettert, empört darüber, mit Leuten, die die „Schwulenseuche“ haben, auftreten zu müssen.
Er erzählt, wie sich Ereignisse auf die so genannte Virus-Last in seinem Blut auswirkten, die oft Schwankungen unterliegt. Wie die Werte absackten, als seine Mutter starb, sich sein Freund von ihm trennte und er arbeitslos wurde. Fragt man ihn, wie er sein Schicksal heute meistert, strahlt er übers ganze Gesicht und sagt: „Meine Pillen nicht vergessen und eine positive Lebenseinstellung haben! Es ist bewiesen, dass das den Umgang mit einer unheilbaren Krankheit positiv beeinflusst. Darum bin ich grundsätzlich Optimist und habe die ,Du-schaffst-das-schon -Einstellung verinnerlicht.“