Das Bild nimmt den Betrachter mit. Mit in eine bessere, unbeschwertere Zeit. Anno Steffens steht auf dem Olymp in Griechenland, 2917 Meter hoch, der Sitz der Götter. Der Kölner wirkt frei, stark. Er kehrt der Kamera den Rücken zu, die Arme sind weit zur Seite ausgebreitet, so als ob er jeden Moment versuchen wolle wegzufliegen. Drei Jahre ist die Aufnahme alt, es ist die Zeit der Olympischen Spiele in Athen. Heute ist Anno tot, gestorben mit 26 Jahren. An Blutkrebs. Er stirbt am 3. Oktober 2005, das Bild in der Küche von Familie Steffens erinnert an Annos Zeit vor der Krankheit.
Seine Eltern Lutz und Almuth Steffens mussten danach lernen, mit Annos endgültigem Abschied, dem Tod ihres Kindes zurechtzukommen. Das Ehepaar aus Neuehrenfeld fand einen Weg, dem Verlust zu begegnen. Es schloß sich dem Gesprächskreis der verwaisten Eltern in Köln an, traf dort auf Leidenspartner. Seit diesem Jahr leitet der 70-jährige Lutz Steffens die Gruppe, jeden zweiten Donnerstag helfen sich die Mitglieder, mit ihrem Schicksal umzugehen und es anzunehmen. Es hat sich mittlerweile schon eine Freundschaft zwischen den Teilnehmern entwickelt - das ist wie ein neuer Freundeskreis, ein richtiges Zuhause, sagt Steffens.
Gemeinsam sprechen sie über ihre Kinder, ihre Gefühle und ihren Umgang mit der Trauer, die für viele zum Perpetuum mobile werden kann. Ich glaube, den Prozess der Trauer nehmen wir mit ins Grab, vermutet Steffens. Die Endgültigkeit von Annos Tod ist mir auch nach zwei Jahren überhaupt nicht bewusst. Manchmal sei Anno ganz nahe bei ihm. Es gibt Situationen, in denen ich das Gefühl habe, er führe mir die Hand und mische mit. Tränen begleiten Lutz Steffens Aussage, die Emotionen brechen aus mir heraus. Doch bereits beim Blick auf das Bild in der Küche versiegen die Tränen, man erkennt ein dezentes Lächeln. Er ist nun mehr stolzer als trauernder Vater.
Ein einnehmendes Lachen ziert auch Markus Holzers (Name geändert) Gesicht, seine dunklen Augen wirken fokussiert, die runden Brillengläser mitsamt Rahmen verstärken den Eindruck. Die Mimik verrät Lebensfreude, Spaß am Sein. Doch der erlosch am 22. September vor zwei Jahren. Der von Geburt an querschnittsgelähmte Kölner starb an einem Herzstillstand infolge seiner Behinderung. Mit 35 Jahren. Sein Lachen füllt nun das Wohnzimmer der Wohnung seiner Mutter Monika (Name geändert), das Bild malte ein Straßenkünstler in Teneriffa. Auf den Bildern ist er mir immer sehr nahe, deshalb habe ich so viele in der Wohnung, sagt Monika Holzer. Im Urlaub in Bayern starb KEC-Fan Markus. Da ist mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden, erinnert sich die 58-Jährige. Aber das Schlimmste ist, dass er nicht mehr wiederkommt. Bereits sechs Wochen nach der Beerdigung ging sie zum ersten Mal in den Kölner Gesprächskreis. Da kann ich reden wie ich möchte - die Leute haben ja alle das gleiche Schicksal. Ich will einfach nicht, dass Markus vergessen wird. Das Zimmer von Markus ist fast unverändert, noch könne sie es nicht ausräumen, offenbart sie. In ihrem Umfeld würden sich viele nicht trauen, sie auf ihren Sohn anzusprechen, aus Angst sie würde weinen. Monika Holzer regt das auf: Ich weine so oder so jeden Tag um mein Kind.
Franz Deller hingegen ist in seiner Bewältigung ein ganzes Stück weiter. Er ist der zweite Vorsitzende des Bundesverbandes der verwaisten Eltern, dem auch die Kölner Gruppe angehört. Ein Autofahrer überfuhr seinen Sohn auf dem Heimweg von der Arbeit. Das war am 21. Mai 1996, einem Dienstag. Jens war 17. Bei Deller hat die Zeit geholfen, den Tod seines Sohnes zu verarbeiten. Bei uns ist ein Stück weit Normalität eingekehrt. Man weiß, der Sohn ist weg, aber ich denke nicht mehr jeden Tag daran. Der 57-Jährige, der auch Vorsitzender der Aschaffenburger Elterngruppe ist, nahm unmittelbar nach Jens Tod gemeinsam mit seiner Familie die Hilfe einer Gesprächsrunde an. Heute, elf Jahre später, rät Franz Deller Betroffenen: Jeder muss für sich eine gewisse Stärke entwickeln. So, wie sie Anno Steffens damals auf dem Olymp verkörperte.