Niedecken blickt zurückDer Chlodwigplatz als Nabel der Welt

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Wolfgang Niedecken zeigt seine neue Autobiografie. (Bild: dpa)

Wolfgang Niedecken zeigt seine neue Autobiografie. (Bild: dpa)

Köln – Die Gegenwart sieht gepflegt aus. Ein modern eingerichtetes Lokal, in dem gut situierte Südstadt-Bewohner zu Mittag essen. Zwei Frauen löffeln Schaum aus ihren Latte-Macchiato-Gläsern, ein Mann im Anzug klappt seinen Laptop zu. Wolfgang Niedecken verbindet mit diesem Ort andere Bilder. „Hier, wo wir jetzt sitzen, das war alles Trümmergelände.“ Niedecken blickt auf den Kartäuserwall. „Von hier konnte man bis zum Ring nur über Trümmer laufen.“

Schutthalden, Ruinen und Keller - die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben einen riesigen Abenteuerspielplatz für die Pänz im Vringsveedel geschaffen. Hier spielt der kleine Wolfgang in den 50er Jahren mit Kindern aus der Nachbarschaft. Traumhafte Verhältnisse, sagt der BAP-Sänger heute, wohlwissend wie gefährlich es damals war, in die instabilen und dunklen Gewölbekeller zu steigen.

In den Nachkriegsjahren gibt eine Fabrik den Rhythmus eines ganzen Veedels vor: Niedecken hat noch heute den bitteren Geruch von Rohkakao in der Nase, wie er vom nicht weit entfernten Stollwerck-Gelände herüberzieht. Präsent ist auch das Bild von den Arbeiterinnen, die nach Schichtende zu hunderten aus dem Tor an der Bottmühle strömen und einkaufen gehen. Unter anderem an der Severinstraße 1: Direkt an der Vringspooz betreibt Vater Niedecken mit seiner Frau Tinny einen Lebensmittelladen.

Josef Niedeckens erstes Geschäft an der Schnurgasse fiel den Bomben zum Opfer, ebenso sein zweites Im Dau. Bevor er sich für das Ladenlokal an der Severinstraße entschied, bediente er sich einer ganz eigenen aber sinnvollen Marktanalyse, wie der Sohn erzählt: „Mein Papp hat sich hingestellt und geguckt, ob die Leute mehr rechts oder links an der Torburg vorbei gingen. Die meisten gingen links vorbei.“

Dort, in dem leer stehenden Ecklokal, fängt Josef Niedecken neu an. Einige Meter weiter, in der heutigen Bäckerei Brockmann lernt er seine spätere Frau kennen. Ihr Sohn Wolfgang wird am 30. März 1951 geboren und erfährt in seinen ersten Jahren wie es ist, wenn ein Lebensmittelladen das Familienleben bestimmt.

Als Kind hat er viel Zeit zum Spielen. Und einen Ort, von dem andere Kinder nur träumen: „Wir hatten eine richtige Burg.“ Die Oma seines Freundes Hansi ist Hausmeisterin der Severinstorburg und lässt die Knirpse herumtoben. „Wir waren Ritter, als wir dort oben zwischen den Zinnen standen“, erinnert sich Niedecken. Ein großes Loch der Severinstorburg dient den Pänz als Versteck, auf der Mauer wird mit Spielzeugautos gespielt und davor Wettkämpfe ausgetragen: „Wer kann am höchsten strullen?“

Musik spielt für den Knirps damals noch keine Rolle. Der kleine Wolfgang will Archäologe werden, nachdem er mit seiner Mutter das Rautenstrauch-Joest-Museum besucht hat. In der darauf folgenden Zeit werden in den Trümmerbergen Ausgrabungen gemacht, aus Obstkisten Vitrinen gebaut und Funde wie zerbrochene Tassen ausgestellt. „Ich hatte ein eigenes Museum.“ Das Leid, das mit den Bomben kam, wird ihm erst mit zunehmenden Alter klar. „Irgendwann hat man begriffen, dass das alles kaputtgebombt worden war.“

Niedecken spricht von einer geborgenen Kindheit. „Der Familienbetrieb war für mich wie die Ponderosa bei Bonanza.“ Und der Chlodwigplatz der Nabel der Welt. Den besingt Niedecken (Textausschnitt siehe rechts) auf dem neuen BAP-Album, das Freitag in den Handel kommt. Es ist nur ein neuer von zahlreichen Songs, in denen Niedecken zurückblickt. Als der BAP-Sänger das Café verlässt und über den Kartäuserwall spaziert, fällt der Blick auf ein Blechtor. „Die Toreinfahrt vum Schuster wohr unser Fußballtor. . .“ beginnt der BAP-Klassiker „Nix wie bessher“. Und genauso war es: „Hier haben wir früher Fußball gespielt.“

Vor dem ehemaligen Geschäft der Eltern angekommen, bleibt Niedecken stehen. „Wir haben darüber in der zweiten Etage gewohnt“, sagt Niedecken und zeigt dann aufs Obergeschoss. „Da lebte der Heinz mit seiner Frau.“ Es ist Niedeckens Halbbruder, der das Geschäft 1979 übernimmt. Josef und Tinny Niedecken ziehen im gleichen Jahr nach Bad Hönningen. „Sie wollten wieder aufs Land, mein Vater stammt aus Unkel.“ Ein Jahr später stirbt er.

Wolfgang Niedeckens Halbbruder führt den Lebensmittelladen elf Jahre lang, bis er ihn verpachtet. Ein Jahr später stirbt er an Leukämie. Seitdem ist in der Severinstraße 1 ein Reisebüro. Der Sohn des verstorbenen Halbbruders lebt in der obersten Etage. „Mein Neffe ist ein ganz lieber Kerl“, sagt Niedecken und dass er viele Leute hier im Veedel gerne öfter sehen würde.

Niedecken spricht von einem 800-Meter-Radius, den er wie seine Westentasche kenne. Über fast jedes Haus kann er eine Geschichte erzählen. Zum Beispiel vom „Früh em Veedel“, der Gaststätte, die im Volksmund „Hermanns Tünn“ hieß und Stammkneipe seines Opas war. „Mein Opa übrigens. . .“ schweift Niedecken ab und kommt aufs „Vringsklösterchen“ zu sprechen. Hier starb der Opa, eine Woche bevor der kleine Wolfgang geboren wurde.

Der Blick schweift über den Chlodwigplatz. „Von hier habe ich angefangen, die Welt zu entdecken. Hier ist für mich der Nabel der Welt“, sagt der BAP-Sänger, macht eine Pause und bringt die Beatles ins Spiel: „Der Chlodwigplatz ist meine Penny Lane.“

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