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„Schrecken holen mich immer wieder ein“Windeckerin erzählt von ihrer Flucht im Zweiten Weltkrieg

Lesezeit 6 Minuten
Waltraut Simon und ihr Bruder Dieter 1943

Waltraut Simon und ihr Bruder Dieter 1943

Die Windeckerin Waltraut Simon hat viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit, aber der Krieg verfolgt sie. Sie erzählt von ihrer Flucht.

„Ich habe so viele Erinnerungen, so viele Bilder im Kopf. Ich kann es kaum glauben, dass meine Flucht aus Ostpreußen im letzten Januar 80 Jahre her war. Ich habe damals unzählige Tote gesehen“, erfahre ich in einem zufälligen Gespräch mit Waltraut Simon aus Windeck. Dass sie 86 Jahre alt ist, merkt man der drahtigen, beweglichen und lebhaften Frau nicht an, Haus und Garten sind von ihr top-gepflegt.

Kriegsbilder aus den Nachrichten machen Windeckerin heute zu schaffen

Hingegen merkt man deutlich, wie sehr sie die Kriegsbilder in den Nachrichten nicht zur Ruhe kommen lassen. Trotzdem möchte sie reden – über ihre wunderschöne Kindheit auf Schloss Januschau in Ostpreußen und wie diese am 25. Januar 1945 im Alptraum der Flucht endete.

1997 besuchte Waltrauts Freundin Schloss Januschau und brachte ihr dieses Foto mit. Foto: Hildegard Bödefeld/Repro: Schmidt

1997 besuchte Waltrauts Freundin Schloss Januschau und brachte ihr dieses Foto mit. Foto: Hildegard Bödefeld/Repro: Schmidt

Wer nun weiterliest, sollte sich in ein Kind hineinversetzen, das bei seiner Flucht erst sechs Jahre alt war und dessen Mutter später niemals über das Thema Krieg und Flucht sprach. Entsprechend verwaschen bleiben manche Erinnerungen und Bilder, für die Trauti – wie die Eltern sie nannten – noch zu klein war. Sie schildert den letzten Blick ihres Vaters zu seiner Familie, bevor russische Soldaten ihn mitnahmen, als habe sich das Bild in ihre Seele gebrannt. Doch dazu später.

Im Sommer 1937 heiraten Agnes Kraemer und Josef Grunert in Pettelkau/Ostpreußen, dem heutigen Pierzchały. Im Oktober 1938 kommt die Tochter Waltraut im westpreußischen Hermsdorf zur Welt. Heinfried Graf von Lehndorff hatte nach dem Tod des Großvaters im August 1937 das Gutsschloss Januschau geerbt, Josef Grunert arbeitete hier als Gutsverwalter.

Im Esszimmer war der Tisch immer weiß gedeckt.
Waltraud Simon über ihre Kindheit

„Wenn man vor dem Schloss stand, hatten meine Eltern eine eigene Wohnung im rechten Flügel. In der Küche war der Zugang zum Schloss. Meine Mutter brauchte nichts zu tun, sie hatte eine Frau, die den Haushalt machte“, schildert die Tochter. „Im Esszimmer war der Tisch immer weiß gedeckt, meine Eltern waren stets elegant gekleidet und pflegten keine Kontakte ins Dorf. Ins Wohnzimmer ging es eine Stufe hoch. Wir durften uns nicht schlecht benehmen. In der oberen Etage hatten wir drei Schlafzimmer und ein Badezimmer.“

Waltraut Simon

Waltraut Simon

Im Mai 1941 kam Bruder Dieter auf die Welt. „Das Leben war schön, wir durften überall herumrennen, keiner sagte was. Wir waren von Natur und viel Wald umgeben. Spielkameraden hatte ich nicht, aber im Wald wohnte in einem Häuschen eine alte Frau, die hat sich sehr um mich gekümmert.“

Der Vater nahm Tochter Trauti mit zu den Trakehner-Pferden, gemeinsam ritten sie in den Wald, begleitet von Wolfshund „Wolf“. Waltraud Simon, geborene Grunert, hat den Spielgefährten bis heute nicht vergessen: „Zu ihm bin ich auch in die Hütte gekrochen“. Wenige Wochen vor der Flucht kam Waltraut in die Schule. Den Krieg hatten die Eltern bislang aus Gesprächen herausgehalten, doch nun rückte die Front immer näher heran.

Kahnpartie der Familie Grunert

Kahnpartie der Familie Grunert

„Auf einem Pferdefuhrwerk mit Zeltdach, gezogen von vier Pferden, flohen wir vor den Russen. Ich versank im Schnee, es war eiskalt. Wir hatten einen Eimer mit Essen dabei“, erinnert sich Waltraut. In ihrer Erinnerung landeten sie irgendwann mit weiteren Menschen von Januschau in einem leeren Haus.

Unvergesslich bleibt der Moment, als sich die Türe öffnet. Die russischen Soldaten sind da. Die Frauen müssen ihren Schmuck abgeben. „Die Männer mussten raus, warum, habe ich damals nicht verstanden. Mein Vater schaute uns der Reihe nach mit einem liebevollen Blick an, als wolle er sagen, ich sehe euch nie wieder“, erinnert sich die Tochter. Josef Grunert war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Seine Familie hat ihn nie wiedergesehen. „Später erzählte uns eine Frau, sie hätte ihn unter den Toten erkannt, die sie in einem Massengrab hatte beerdigen müssen“, sagt Waltraut Simon.

Ein Haus, in dem die Familie Schutz suchte, brannte ab

Mutter und Kinder zogen von einem leerstehenden, eiskalten Haus zum nächsten. „Die Pferde waren weg, es gab nichts zu essen, wir sind einfach immer nur gelaufen. Unterwegs baumelte ein Toter an einem Baum.“ Waltraut Simon versagt die Stimme, als sie diese Eindrücke aus ihren Erinnerungen hervor holt. Tränen stehen in den Augen. „Innerlich war ich wie tot. Mein Bruder war erst drei Jahre alt und erinnert sich Gott sei Dank nicht an die Flucht. Die Füße waren gefroren, wir hatten keine Zudecke. In einer Nacht kam ein Mann und brüllte „raus, raus.“

Ein weiteres Haus, in dem die Familie Schutz suchte, brannte ab. Es ging zurück zur alten Schule in Januschau, die voller Menschen war, alle waren auf der Flucht. „Mit Mutter gingen wir noch einmal in die alte Wohnung, wo sie Fotos vom Boden auflas. Auf dem Tisch lag ein abgesägter Schweinekopf, das Mobiliar war zersägt. Wir gingen nicht mehr ins Schloss, alles war kaputt. Wir lebten von Kartoffelschalen und schimmeligem Brot.“

Gegen den Durst lutschte Waltraut Simon am Schnee

Der älteste Bruder der Mutter war vor Ausbruch des Krieges in den Westen gegangen, er ließ die Schwester vom Roten Kreuz suchen. Nur Bruchstücke sind Waltraut Simon von der Flucht in den Westen im Gedächtnis geblieben: Eine Nacht in einem weiteren Schloss, das zerstört wurde. Sie vermutet, dass es das Schweriner Schloss war. „Ich schlief auf Stroh und musste nachts zur Toilette. Auf dem Weg sah ich einen großen Fuß. Es lag dort ein Toter, ich schrie vor Entsetzen. Unterwegs haben wir unzählige Tote am Wegesrand liegen sehen. Die Erinnerung daran ist fürchterlich, Mütter und Kinder mussten leiden, die Frauen wurden von den Russen vergewaltigt, die Deutschen waren nicht besser.“

Waltraut Simon erinnert sich, dass sie ansehen musste, wie ein Mensch erschossen wurde. Sie erinnert sich an überfüllte Züge, in die sie hineingeschoben wurde. Wie lange die Flucht dauerte, weiß sie nicht mehr. Sie erinnert sich, dass sie Schnee gegen den Durst lutschte, dass sie in ein Lager kamen, von oben bis unten voller Läuse. Die Kinder wurden krank.

Eines Tages erreichten sie Homberg bei Neuss, dort lebte der Bruder der Mutter mit seiner Frau. Angekommen, erkrankte die Mutter an Malaria und rang mit dem Tod. Tochter Trauti und ihren Sohn Dieter gab sie zu einer Familie, den Wormanns. „Die kümmerten sich liebevoll um uns, richteten sogar meine Kommunion aus“, erinnert sich Simon. Im Haus der Wormanns bezogen sie eine eigene Wohnung. Doch auch Waltraut litt an den Folgen der Flucht und erkrankte an Malaria und Diphtherie. Sechs Wochen lang habe sie um ihr Leben gekämpft.

Wieder genesen, ging es nach Spurkenbach bei Waldbröl. Dort lebte die Schwester der Mutter, die Agnes Grunert und die beiden Kinder zu sich holte. Dort sollten die Grunerts neue Wurzeln schlagen. 1960 heiratete Waltraut Grunert Lorenz Simon aus Dreisel und gründete ihre eigene Familie. „Nach dem Krieg hat meine Mutter nie wieder über die Flucht geredet. Sie hatte alles verloren, sie wollte oder konnte nicht reden. Sie wurde 96 Jahre alt“.

Waltraut Simon war es sehr wichtig ihre Geschichte zu erzählen, trotz Flucht und Vertreibung sagt sie heute: „Ich hatte danach 80 Jahre ein gutes Leben, aber die Schrecken holen mich immer wieder ein. Ich habe mir vorgenommen, jetzt nur noch auf das Positive zu sehen.“