Ein vom Vater handgemachter Fußball unterm Tannenbaum – im exklusiven Interview mit Michael Nowak blickt Berti Vogts nicht nur auf seine herausragende Karriere als Spieler und Trainer zurück: Thema ist auch sein 75. Geburtstag, der am 30. Dezember im kleinen Kreis gefeiert wird.
Der Weltmeister von 1974 und Trainer des Teams, das 1996 als letzte deutsche Nationalelf den Europameistertitel gewann, schlägt mit kritischen Anmerkungen auch die Brücke von gestern zu heute bei den Themen Talentförderung und Trainerausbildung. Und Berti Vogts erzählt, warum sein Verhältnis zu seiner Mönchengladbacher Borussia inzwischen arg getrübt ist.
Herr Vogts, der legendäre „Spiegel“-Reporter Jürgen Leinemann hat 1990 bei Ihrem Amtsantritt als Bundestrainer geschrieben: „Er glaubt an das Gute im Menschen, an sein deutsches Vaterland, an die heilige katholische Kirche, natürlich an den Fußball. Vor allem aber glaubt er an Gerechtigkeit.“ Was davon ist geblieben?
Berti Vogts: Alles! Das kann ich nach wie vor so unterschreiben. All das trage ich weiter in meinem Herzen. Auch wenn mal Zweifel aufkommen wie in der Corona-Krise. Dass eine solche Pandemie nicht vorhersehbar war: okay. Dass es aber zum Beispiel noch immer Impfstoff-Engpässe gibt: nicht nachzuvollziehen!
Feiern Sie Ihren 75. Geburtstag dennoch?
Geplant ist ein kleiner Rahmen. Natürlich unter Auflagen, die das Hotel „Traube Tonbach“ im Schwarzwald beachten muss, in dem ich seit Jahren die Feiertage verbringe. Einige Freunde sind eingeladen, mein Sohn Justin ist dabei mit Familie. Er hat mich zum Opa gemacht, seine Frau hat ein Kind bekommen, ein Mädchen. Erst recht in diesen Zeiten ein freudiges Ereignis.
Harmonie – für Sie besonders wichtig?
Bei uns zu Hause ging es immer familiär zu. Auch als ich nach dem frühen Tod meiner Eltern bei der Schwester meiner Mutter aufwuchs, hatte ich eine wunderschöne Kindheit.Und irgendwann lag ein Fußball unterm Weihnachtsbaum?Mein Vater war Schuhmacher und fertigte mir Fußballschuhe und einen Lederball. Damit war ich bei meinen Straßenkickern besonders beliebt. Vorher gab es nur Gummibälle. Wir spielten ständig auf der Straße. Wenn ich jetzt mit dem Hund am Kinderspielplatz vorbeikomme, gibt es sogar Schilder: Ballspielen verboten! Dort beginnt doch der Spaß am Spiel.
Zum Spaß kam Ihr Ehrgeiz?
Selbst spreche ich von Willen. Mein Ziel war, unbedingt Stammspieler in Mönchengladbach zu werden. Raus aus bescheidenen Verhältnissen. Auf das Erreichte bin ich stolz.Hätten Sie gerne etwas von Franz Beckenbauers Eleganz oder
Günter Netzers Glamour besessen?
Nein, dann wäre ich nicht zu dem Spieler geworden, der ich war. Während ich mir alles erarbeiten musste, hatten sie diese Leichtigkeit – total andere Typen. Vor allem aber sind beide tolle Menschen, richtig gute Freunde wie auch Rainer Bonhof.
Wer hat Sie im Jugendbereich geprägt?
Dettmar Cramer, der in Duisburg bei der Westdeutschen Auswahl einer meiner Trainer war. Dorthin kam ich als Halbstürmer, heute würde man Achter sagen. Für die Trainer war das die falsche Position, so wurde ich Verteidiger.
Hat ordentlich geklappt...
Jedenfalls blieb es so. Als Dettmar Cramer dann beim DFB war und ich in der U18 spielte, hat er mir zum Wechsel nach Mönchengladbach geraten. Weil dort mit Hennes Weisweiler ein Trainer sei, der auf junge Spieler setze, und ich Jupp Heynckes, Günter Netzer und andere schon kenne.
Eine solche Umgebung brauchst du, hat er gesagt. Schau nicht nur aufs Geld, selbst wenn Düsseldorf mehr bietet. Eigentlich war ich ja Fortuna-Fan und habe Spiele im Rheinstadion besucht, ausgestattet mit großer Fahne. Mönchengladbach war aber die richtige Entscheidung.
Was hatte der Bundesliga-Aufsteiger 1965 zu bieten?
Anfangs 800 D-Mark im Monat, für mich viel Geld. In der Werkzeugmacher-Lehre gab es gerade 80 D-Mark. Der Club bezahlte auch meinen Führerschein und stellte mir einen Opel Rekord Coupé zur Verfügung mit 70000 Kilometern auf dem Tacho. Vorher wurde ich zum Training von Mitspieler Herbert Laumen abgeholt.
Der war dabei, als Sie mit Hennes Weisweiler 1966 zur WM nach England reisten.
Vielleicht hat der Trainer mich nur mitgenommen, weil er dachte: Der Berti kann gut Auto fahren, sicher auch im Linksverkehr. Oder doch mit Weitblick? Ich gehörte zur WM schon zum vorläufigen 40er-Aufgebot. Als wir ein Training der deutschen Mannschaft anschauten, kam Bundestrainer Helmut Schön zu mir und sagte: Beim nächsten Freundschaftsspiel nach der WM bist du dabei!
Als DFB-Coach haben Sie für damalige Zeiten Erstaunliches geäußert: „Trainer müssen sich mit dem Computer beschäftigen.“
Auch jetzt orientieren wir uns in der Trainerausbildung falsch. Deshalb habe ich mich aus dem DFB-Beirat verabschiedet, der seit der WM 2018 als beratendes Expertenteam fungiert. Früher war beim Fußballlehrer-Lehrgang vorgeschrieben, sechs Wochen im Ausland zu hospitieren. Warum wird nun darauf verzichtet, dass angehende Trainer solche Erfahrungen machen? Sind wir in Deutschland die Erfinder des Fußballs?
Auch das Thema Fußballnachwuchs hat Sie viel beschäftigt.
Nur mit Weitblick lernt man dazu. Den bekommt man nicht allein im eigenen Verein oder Verband. In meiner Bundestrainerzeit haben wir aus Frankreich vom FC Sochaux, wo es die beste Jugendausbildung gab, Verantwortliche für Referate vor Fußballlehrern der DFB-Landesverbände eingeladen. Die sind noch immer die ersten Trainer, die mit jungen Spielern arbeiten. Dass heute ein Talent, ohne in der Akademie eines Proficlubs gewesen zu sein, Profi wird, ist vergleichbar mit der Chance auf sechs Richtige mit Superzahl im Lotto.
Lassen Sie zum 75. Ihren Lebensfilm ablaufen?
Überhaupt nicht! Natürlich werde ich darauf angesprochen. Dann kommt mir schon mal in den Sinn, dass ich in meiner Laufbahn doch einiges hätte anders machen sollen.
Was genau?
Dass ich 14 Jahre einem Club treu geblieben bin, der mit seinen Legenden nicht mehr viel zu tun haben will, was aus meiner Sicht vor allem am Präsidenten liegt. Für mich erschreckend. Seit sechs Jahren kaufe ich zwei Dauerkarten selbst. Sonst will ich mit dem Club nichts mehr zu tun haben. Die Ausnahme ist Rainer Bonhof, der ja Vizepräsident ist. Über den Verein rede ich mit ihm aber nicht!
Nicht zu kitten?
Das Thema ist für mich erledigt! Wir hatten eine tolle Zeit: Ein Dorfverein wurde zum Topclub. Heute ärgere ich mich darüber, nicht auf Franz Beckenbauer gehört zu haben. Er wollte mich nach München holen und später zu Cosmos New York.
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Nach der WM 1990 mit Beckenbauer haben Sie 1996 den letzten EM-Titel einer deutschen Nationalelf geholt. Ein Sieg als Genugtuung nach Gegenwind?
Ich bin mir immer treu geblieben – auch beim DFB. Obwohl es nicht einfach war, eine Weltmeistermannschaft zu übernehmen, ergänzt mit Spielern aus der DDR. Einige Medien waren gewohnt, vorab Informationen zu bekommen, was es bei mir nicht gab. Die Wahrheit zu sagen war mir immer lieber als diplomatisches Verhalten. Das halte ich bis heute so, vor allem wenn ich Unrecht empfinde.
Ganz der „Terrier“, der sich auch vor „großen Tieren“ auf dem Platz nicht fürchtete. Oder wie Sie sagten: „Angst hat man nur in der Wildnis vor einem Rudel Hyänen“?
Und vor einer Schlange direkt vor der Nase – habe ich vor zwei Jahren im Kruger-Nationalpark in Südafrika erlebt. Beim Duschen, draußen vor meiner Lodge. Nicht so schlimm, hat man mir gesagt. Die Schlange sei giftig, aber nur ein bisschen... Damals bin ich zu Anfang der Pandemie mit dem letzten Lufthansa-Flug von Kapstadt nach Frankfurt gerade noch zurückgekommen. Solche Reisen fehlen mir in dieser Zeit der Einschränkungen.