Arminia Bielefeld steht als Drittligist im großen Endspiel von Berlin. Es ist eine dieser verrückten Geschichten, die der Sport zuverlässig beschert. Die Stadt bekommt endlich den Respekt, den sie verdient, findet unser Autor.
BielefeldVom Spott zur Euphorie - die Stadt des Glücks

Außer Rand und Band: Die Fans von Arminia Bielefeld hatten zuletzt ausgesprochen viel Grund zum Jubeln.
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Das Café Europa am Bielefelder Jahnplatz war immer eine gute Adresse. Schon 1930 öffneten sich hier die Türen. In den 50er Jahren traf man sich sonntags zum Tanztee, später waren Schlagerstars zu Gast, heute tanzen die 20- bis 30-Jährigen zu elektronischer Musik. Und seit einigen Wochen feiert hier der DSC Arminia Bielefeld. Und wie. Nach den heroischen Pokaltriumphen des Drittligisten zogen Trainer „Mitch“ Kniat und seine Spieler zuverlässig zur After-Show-Party ins „Europa“. Manch ältere Dame der Stadt seufzte gerührt: „Da habe ich früher schon getanzt.“ Und der Club war plötzlich im ganzen Land bekannt. Wie der Fußball-Verein und die Stadt.
Bielefeld und die Legende der Stadt
Der Sport liebt die Heldengeschichten. Wenn der Kleine über sich hinauswächst und dem Großen ein Bein stellt. Wenn alles zusammenkommt und Sensationelles passiert. Damit Bielefeld ins deutsche Pokalfinale einzieht, muss eine ganze Menge passieren. Schon die Existenz der ostwestfälischen Metropole wird regelmäßig in Frage gestellt. Nach einer satirischen Verschwörungstheorie gibt es Bielefeld gar nicht. Der Gag entstand 1994 und wurde früh Teil der Internetfolklore. Die Stadtmarketinggesellschaft griff das Thema zum 800. Stadt-Geburtstag vor elf Jahren offensiv auf. Das damalige Motto würde zu einem morgigen Pokaltriumph noch viel besser passen: „Gibt's doch gar nicht.“

Wahrzeichen und beliebtes Ausflugsziel: die Sparrenburg.
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An Spott hat es dieser Stadt nie gemangelt, doch in diesen Tagen erhebt sie sich über die Häme, es herrscht in der ostwestfälischen Metropole eine nie gekannte Euphorie. Die Nachfrage nach Bahn-Tickets von Bielefeld lag für den Samstag 46.000-fach über Normalniveau hat die Deutsche Bahn in einer findigen Grafik illustriert. „Ganz Bielefeld hat schon gebucht“, lautet der Zusatz. Dabei konnten all die Kartenwünsche längst nicht befriedigt werden. 25.000 Karten stehen für den Underdog zur Verfügung, 100.000 Anhänger werden in Berlin erwartet. Und natürlich wird es am Jahnplatz, dem durch Ufo-artige Bushaltestellen verstellten Verkehrsknoten der Stadt, eine Public-Viewing-Party geben am Samstagabend.
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Die Historie Bielefelds: Vom Leinen bis zur Universität
Ach, Bielefeld. Endlich raus aus dem Schatten. Gegründet wurde die Stadt 1214 vom Graf Hermann von Ravensberg, lange geprägt von der Leinenindustrie. Die Universität wurde 1969 mit der Bildungsoffensive gegründet. Die Stadt hat 330.000 Einwohner, den Lebensmittelkonzern Dr. Oetker und eine schmucke Altstadt. Sie ist (auch) bekannt für die Rekord-Blitzer auf der Autobahn 2. Umgeben ist sie von sanft hügeligem Grün, von einer Landschaft, die Kabarettist (und Motorradfahrer) Jürgen Becker schwärmen lässt. Der Rücken des Teutoburger Waldes zieht sich mitten durch die Stadt.

Einnahmequelle: Die Blitzer auf der A2 schießen scharf
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Vom Wahrzeichen, der Sparrenburg, führt ein Kammweg über 35 Kilometer ins Lippische Land. Dort thront übergroß ein Abbild von Hermann (lateinisch: Arminius), dem Cherusker. Er hat die Römer in die Flucht geschlagen und steht symbolisch für die Furchtlosigkeit der Arminia. Dass die Varusschlacht wohl eher bei Osnabrück stattgefunden hat: Schwamm drüber. Hermann wurde nun wie 1999 ein überdimensionales Trikot übergestreift. Und bei einem Pokalsieg? Vielleicht würde das ostwestfälische Völkchen den „Hermann“ auf die Alm, ins Stadion des DSC, versetzen. Aber egal, wie das Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart ausgeht: Am Sonntag wird die Stadt die Helden um Mittelfeldmotor Mael Corboz im Rathaus empfangen. Und wenige Tage später wird der Leineweber-Markt gefeiert.
Arminia Bielefeld: Die Pokalreise der Sensationen
Um sich die Dimensionen der Sensation zu vergegenwärtigen genügt ein Blick auf den aktuellen Westfalenpokal-Wettbewerb. In diesen Niederungen musste Arminia antreten, um sich für die nächste Pokal-Hauptrunde zu qualifizieren. Die erste Runde überstand man beim Bezirksligisten (!) Tus Liperreihe mit 6:5 nach Elfmeterschießen, die zweite mit 1:0 gegen Westfalenligist SC Peckeloh. Das Siegtor fiel in der 94. Minute. Die gleichen Spieler warfen später die hoch dotierten Bundesliga-Kicker aus Berlin, Freiburg, Bremen und zuletzt den Double-Sieger aus Leverkusen aus dem Wettbewerb. Vier Mal hintereinander hat der Drittligist einen Erstligisten aus dem Wettbewerb katapultiert. Gibt's doch gar nicht.

Auf dem Rathausbalkon werden die Spieler am Sonntag empfangen.
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Nun neigt der Bielefelder nicht zu Übermut. Im Gegenteil. Jeder Fan weiß, dass es sich um Ereignisse von nie dagewesener, vermutlich einzigartiger Schönheit handelt. Das Problem ist eher, mit all dem Glück umzugehen, denn der Bielefelder an sich, der meckert schon ganze gerne. Im aktuellen Schlachtruf ist zu hören, dass Generationen verstorben sind, ohne dieses Spiel zu sehen, und dass man noch den Kindern vom Finale in Berlin berichten werde.
Historische Fußballmomente: Arminias große Spiele
Nahe kam dem vielleicht der 22. Spieltag der Bundesliga-Saison 1978/79. Arminia gastierte beim FC Bayern München mit Franz Beckenbauer und mit Sepp Maier und Karl-Heinz Rummenigge. 0:4 stand am Ende auf der Anzeigetafel, und in Bielefeld stand die Zeit still. Männer hörten auf, ihr Auto zu waschen, Frauen legten die Illustrierte beiseite, und Kinder stoppen das Sackhüpfen auf Geburtstagen. Norbert Eilenfeld traf zwei Mal, dazu Volker Graul und Helmut Schröder. Das Bild vom Ergebnis auf der riesigen Münchener Anzeigetafel soll noch heute in manchem Bielefelder Wohnzimmer hängen.
Oder der 5. Mai 1981. Arminia war so gut wie abgestiegen, nach einem 1:2-Rückstand im Spiel gegen 1860 München. Die Zuschauer verließen das Stadion frustriert, doch dann fiel kurz vor Schluss das 2:2 und mit dem Schlusspfiff noch der Siegtreffer zum 3:2. Die morschen Holztribünen bebten. Arminia blieb drin, Trainer Horst Franz genießt bis heute als „Retter“ Heldenstatus.
Dabei hat es der Ostwestfale gar nicht so mit dem großen, lauten Auftritt. Überhaupt macht man in diesem Landstrich nicht viele Worte. Während der Rheinländer das Reden als Selbstzweck schätzt, geizt der Bielefelder mit Worten. Man kann schließlich auch schweigend vor einem Paar Bier jede Menge Spaß haben.
Aufstieg und Fall: Arminias wechselvolle Geschichte
Rein sportlich überwiegt der Hang zum dramatischen Scheitern die Triumphe. Seit der Gründung 1905 ist die Arminia 31 Mal auf- oder abgestiegen. Mit acht Aufstiegen in die Bundesliga trägt der DSC Arminia gemeinsam mit dem 1. FC Nürnberg den inoffiziellen Titel des „Rekordaufsteigers". Ganz frisch wurde die Rückkehr in die zweite Liga gefeiert – natürlich im Café Europa. Es läuft einfach derzeit. Ansonsten ist der Briefkopf arm an Triumphen.
In Erinnerung sind viel mehr spektakuläre Niederlagen. Vor allem das historische 1:11 gegen Borussia Dortmund. Das war am 6. November 1982 – es war eine der höchsten Niederlagen der Bundesliga-Geschichte. Bielefeld führte 1:0, zur Halbzeit stand es 1:1. Im Tor musste ein Finne namens Oli Isoaho die folgende Torflut ertragen. Man hat nicht mehr viel von dem Torhüter gehört, doch man weiß: Die Finnen sind glückliche Menschen. Wie die Bielefelder. Zumindest an diesem Wochenende.
Ein persönliches Bekenntnis zur Arminia
Der Autor dieser Zeilen stammt gebürtig aus Bielefeld und hat früher das Arminia-Trikot selbstbewusst getragen. Die wertvollste Autogrammkarte war die von Ewald Lienen, der aus Prinzip keine Unterschriften gab. Leider ist sie heute verschollen.