Interview mit Corona-Experten„Mich wundert sehr, dass nicht intensiver über Long Covid diskutiert wird“

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Ein Corona-Test liegt auf einem Tisch. (Symbolbild)

Ein Corona-Test (Symbolbild). Nicht nur kurzfristig belastet eine Corona-Infektion den menschlichen Körper, sie kann auch schwerwiegende langfristige Folgen haben.

Warum erkranken manche Menschen an Long Covid? Professor Bernhard Schieffer ist einer der wenigen Experten auf diesem Gebiet. Mit Dirk Fisser spricht er darüber, was derzeit in der Pandemiebekämpfung schiefläuft.

Herr Schieffer, Sie haben an der Uniklinik Marburg eine Long-Covid-Ambulanz eingerichtet. Eigentlich sind Sie Spezialist für Herzerkrankungen. Wie kam es dazu?

Das geht zurück auf den Jahreswechsel 2020/2021. Damals wurden bei mir in der Kardiologie, aber auch bei unseren Nerven- und Lungenärzten Patienten vorstellig mit Symptomen, die sich nicht so genau medizinisch fassen ließen. Sie waren müde und abgeschlagen. Was die meisten vereinte: Sie hatten vor mehr oder weniger kurzer Zeit eine Corona-Infektion überstanden oder – der deutlich seltenere Fall – eine Impfung erhalten. Wir fassen das unter Long-Covid-Syndrom heute zusammen. Uns war relativ schnell klar, dass ein Zusammenhang zwischen Symptomen und der eigentlich überstandenen Corona-Infektion bestehen muss. Deswegen haben wir die Ambulanz gegründet.

Wie viele Patienten sind mittlerweile vorstellig worden?

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Ich habe nicht gezählt. Aber mehr als 1000 werden es gewesen sein. Zwischenzeitlich waren unsere Server zur Terminvergabe unter der Last zusammengebrochen. Wir haben eine Warteliste bis in den kommenden Sommer hinein – und noch immer warten 2000 bis 3000.

Gibt es so etwas wie das klassische Long-Covid-Symptom?

Nein, es gibt nicht das eine Symptom. Es gibt Patientengruppen mit ganz unterschiedlichen Symptomen. Deswegen sprechen wir heute auch eher von einem Long-Covid-Syndrom: Syndrome sind verschiedene Symptome, die sich zu einem Krankheitsbild zusammensetzen.

Was unterscheidet Long Covid ausgelöst durch eine Corona-Infektion von Long Covid infolge einer Impfung gegen Corona?

Der Unterschied liegt darin, dass Sie im ersten Fall eine Corona-Infektion mit diesen typischen grippeähnlichen Symptomen durchgemacht haben. Die Infektion kann mehr oder weniger heftig ausfallen. Bei Long Covid, das mutmaßlich durch eine Impfung ausgelöst wurde, gab es diese Infektion nicht. Die Symptome selbst treten dann in beiden Fällen mit einiger Verzögerung auf. Der Verlauf ist vergleichbar, hängt aber auch davon ab, welcher Risikogruppe Sie angehören.

Empfehlen Sie trotz Ihrer Erfahrungen eine Impfung gegen Corona?

Auf alle Fälle! Auch wenn das jetzt einen Aufschrei unter Impfgegnern auslösen wird: Ich bin absoluter Impfbefürworter. Wir müssen uns gerade in der kritischen Jahreszeit, dem Winter, vor dem Virus schützen und eine Grundimmunisierung in der Bevölkerung erreichen. Die Chance, an Long Covid zu erkranken, liegt nach derzeitigen Erkenntnissen zwischen 20 und 30 Prozent. Die Impfung schützt davor, bei einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen.

Der Nutzen überwiegt also das Risiko, an dem zu erkranken, was wir als Post-Vac-Syndrom kennen?

Ja. Die Wahrscheinlichkeit ist ähnlich gering wie bei einer Polio- oder Gelbfieber-Impfung. Aber die Gelbfieber-Impfung ist ein gutes Beispiel, was wir bei der Corona-Impfung aus meiner Sicht ändern müssen: Sie müssen bei einer Gelbfieber-Impfung zu einem Tropenmediziner, der sie einmal gründlich untersucht und mögliche Risikofaktoren für das Auftreten von Nebenwirkungen abcheckt. So etwas brauchen wir bei Corona auch.

Sie meinen, der kurze Fragebogen, den wir derzeit vor einer Impfung ausfüllen, reicht nicht?

Uns fehlen einfach Grundlagen. Wir ahnen zu wissen, was Long Covid auslöst und welche Risikofaktoren es dafür gibt. Aber wir brauchen mehr Daten. Weil die fehlen, wird so emotional gestritten und zu wenig faktenbasiert argumentiert. Eigentlich müssten wir europaweit Erhebungen zu Impfnebenwirkungen machen. Derzeit macht jedes Land sein eigenes Ding bei der Erhebung der Impfnebenwirkungen. In Deutschland gibt es so etwas in dieser Art gar nicht. Das muss sich ändern.

Warum geschieht das nicht? Und warum legt die Politik keinen Fokus auf Long Covid insgesamt?

Ich bin Hochschulprofessor, der sich aus wissenschaftlicher Überzeugung neben seiner Tätigkeit als Kardiologe um dieses Thema kümmert und nach Antworten sucht. Ich kann Ihnen Ihre Frage zur Politik nicht beantworten. Aber natürlich wundert mich sehr, dass aus irgendwelchen Gründen nicht intensiver über Long Covid diskutiert wird.

Traut sich die Politik nicht?

Keine Ahnung, das müssen Sie die Politik fragen. Aber Fakt ist: Covid wird uns noch Jahrzehnte beschäftigen. Wenn jetzt ein 25-Jähriger betroffen ist, wird er dem Sozial- und Gesundheitssystem 40 oder mehr Jahre zur Last fallen. Die Auswirkungen sind immens. Nicht nur für den Sozialstaat, auch für die Wirtschaft und natürlich die Menschen selbst. All das wird in der Öffentlichkeit aber kaum adressiert.


Zur Person

Professor Dr. Bernhard Schieffer ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum in Marburg. Seit Anfang 2021 behandelt er als Teil eines interdisziplinären Teams Long-Covid-Patienten. Erste Post-Vac-Patienten kamen im Zuge der Impfkampagne Mitte 2021 dazu. (EB)


Statistiker verzeichnen derzeit eine gewisse Übersterblichkeit. Hängt das mit Long Covid zusammen?

Auch das lässt sich mangels Daten nicht wirklich beantworten. Aus klinischen Studien wissen wir, dass es lange Zeit nach einer Corona-Infektion beispielsweise zu einer Herzmuskelentzündung kommen kann und Herz-Rhythmus-Störungen auftreten, die bis zum Tod führen können. Wir haben sehr viele junge Patienten mit Herzinfarkt, Schlaganfall oder Lungenembolie, die keine anderen offensichtlichen Erkrankungen gehabt haben als eine eigentlich überstandene Corona-Infektion. Aber hier den Kausalzusammenhang herstellen, kann ich nicht machen, weil die Daten fehlen. Was bekannt ist: So ziemlich alle westlichen Länder verzeichnen derzeit eine Übersterblichkeit.

Es fehlt an Daten, es fehlt an Anlaufstellen für Betroffene. Was muss sich ändern?

Wir brauchen ein Nationales Long-Covid-Institut. Da müssen Fachleute aus verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten. Und die Datenerhebung in Deutschland muss gefördert werden. Wir müssen besser verstehen, warum manche Menschen an Long Covid erkranken. Wer erkrankt? Was sind die Risikogruppen? Es braucht endlich mehr Transparenz.

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