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Interview

Top-Ökonom Heiner Flassbeck
„Die Boomer-Debatte ist grober Unfug“

5 min
Heiner Flassbeck, Chef-Volkswirt Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), spricht am 03.05.2013 auf dem Kirchentag in Hamburg bei einer Podiums-Diskussion zum Thema "Wer regiert das Geld? Gestalten statt Spekulieren - Soziale Marktwirtschaft im Griff der Finanzmärkte" in der Hauptkirche Sankt Michaelis (Michel). Foto: Christian Charisius/dpa ++ +++ dpa-Bildfunk +++

Heiner Flassbeck

Top-Ökonom Heiner Flassbeck ist sauer: Die Kritik an der Boomer-Generation sei völlig fehlgeleitet. Hohe Renten schaden der Wirtschaft nicht – im Gegenteil. Und der Staat sollte viel mehr Schulden machen, nicht weniger.

Streng genommen, ist Top-Ökonom Heiner Flassbeck kein Boomer, dafür ist er laut der Definition des Statistischen Bundesamtes vier Jahre zu alt. Trotzdem hat er die Debatte um Generationengerechtigkeit persönlich genommen und ist richtig angefressen. Im Interview erklärt er, warum die „Hetze gegen Boomer“ fehlgeleitet ist und weshalb hohe Renten keine Gefahr für die Wirtschaft sind. Heiner Flassbeck ist Volkswirt und war unter Oskar Lafontaine (damals SPD, später Linke und BSW) Staatssekretär im Finanzministerium. Geforscht hat er unter anderem für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), wo er die Abteilung „Konjunktur“ geleitet hat. Er ist zudem ehemaliger Chefvolkswirt der OECD.

Herr Flassbeck, die Debatte um Boomer und die Generationengerechtigkeit hat Sie wütend gemacht. Warum?

Diese Boomer-Debatte ist einfach grober Unfug. Man kann eine Generation nicht kollektiv für alles verantwortlich machen, was in ihrer Lebenszeit schiefgelaufen ist. Hinzu kommt: Verantwortlich kann nur sein, wer handelt. Und gehandelt wird nun mal nicht von Generationen, sondern von Menschen. Dieses kollektive Handeln, was man „den Boomern“ oder „der Gen-Z“ immer unterstellt, gibt es einfach nicht.

Aber die Boomer...

Es gibt „die Boomer“ nicht! Alles, was die Mitglieder einer Generation gemeinsam haben, sind ihre Geburtsjahre. Wenn Sie jemandem die Schuld geben wollen, dann den Politikern und anderen mächtigen Menschen, die damals das Sagen hatten. Wir hatten zum Beispiel jeweils 16 Jahre mit Helmut Kohl und Angela Merkel. Das waren Stillstandphasen, die durch nichts zu rechtfertigen waren. Die Schröder-Zeit war sogar ein Rückschritt. Die Fehler von Kohl, Merkel und Schröder einer ganzen Alterskohorte zuzuschlagen, geht einfach nicht. Ich bin ja zum Beispiel mitgemeint, wenn die Leute über „Boomer“ reden. Ich habe aber mein ganzes wissenschaftliches Leben damit verbracht, gegen die Politik, die man mit den „Boomern“ assoziiert, anzuargumentieren.

Jüngere Menschen haben oft den Eindruck, dass die Boomer das süße Leben genießen konnten und sie jetzt die Rechnung präsentiert bekommen.

Jede Generation der letzten 70 Jahre hatte Glück und Pech zugleich. Auch wenn die „Boomer“ es bei ein paar Dingen ein wenig leichter hatten als die Jungen heute, hatten sie auch ihre Probleme. Die vielen Arbeitslosen in den Siebzigern und Anfang des Jahrtausends waren hauptsächlich „Boomer“. Wer davon betroffen war, hat eben kein Glück gehabt. Wenn wir noch weiter zurückgehen, ist diese Alterskohorte in einem Land geboren, das vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet war und in weiten Teilen noch in Trümmern lag. Man kann also auch da nicht sagen, dass die „Boomer“ besonderes Glück gehabt haben.

Unser deutsches Rentensystem ist eine Umverteilung von Jung nach Alt. Da kann man doch von Generationen und ihren Interessen sprechen?

Wer denkt, dass man das Rentenproblem lösen kann, indem man die Rentner zugunsten der arbeitenden Bevölkerung verarmen lässt, erzählt ökonomisch betrachtet einfach grandiosen Unfug. Statt eine ernsthafte Auseinandersetzung in der Sache zu führen, schlagen wir uns die Köpfe über solche Nebensächlichkeiten ein.

Warum ist das ökonomischer Unfug? Die Rente ist ja eine nennenswerte Belastung für den Staatshaushalt und die Gehaltsabrechnung.

Die Rentner geben das Geld, das an sie gezahlt wird, aber auch wieder aus und schaffen so wirtschaftliche Nachfrage. Wenn der deutsche Außenhandelsüberschuss weiter abschmilzt, wie es etwa Donald Trump will, muss der Staat die Lücke füllen, wenn die Wirtschaft nicht schrumpfen soll. Wenn einer sparen will, muss es immer einen anderen geben, der sich verschuldet. Es ist Schwachsinn, wenn man auf Schulden, etwa für die Rente, verzichtet und dafür die Wirtschaft zugrunde gehen lässt. Denn eine kaputte Wirtschaft schadet „der Jugend“ viel nachhaltiger als Staatsschulden und höhere Rentenbeiträge.

Schadet es nicht der Nachfrage, wenn alle Arbeitnehmer einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens in Rentenbeiträge stecken?

Nein. Die Beiträge sind ja nicht weg, sondern nur woanders. Nämlich bei den Rentnern, die sie sofort wieder ausgeben und damit die Nachfrage ankurbeln. Die Nachfrage verlagert sich also nur.

Nachfolgende Generationen müssen die Schulden freilich bedienen und irgendwann wieder zurückzahlen.

Das ist der große deutsche Irrtum. Die Unternehmen investieren weniger als in vergangenen Jahrzehnten, machen also keine Schulden. Auch das Ausland ist nicht mehr bereit, unsere Autos und Maschinen in dem Maße zu kaufen wie früher. Die fallen also auch als Schuldner weg. Auch die Bürger sind angehalten zu sparen, etwa durch Modelle wie die Riesterrente, und tun das auch. Es bleibt nur noch der Staat als Schuldner übrig. Er macht die Schulden ja auch nicht zum Spaß, sondern kauft damit bei Unternehmen ein oder gibt das Geld als Sozialleistungen an Bürger, die damit konsumieren. Das Geld landet also wieder in den Taschen der Bürger. Wenn jetzt auch der Staat keine Schulden macht, ist die deutsche Wirtschaft in sechs Monaten tot.

Aber irgendwann werden die Anleihen doch fällig.

Das ist wirklich eine Idioten-Diskussion. Der Staat zahlt seine Schulden überhaupt nie zurück. Denn dann würde er selbst zum Sparer werden. Er kann aber nur zum Sparer werden, wenn sich genügend andere verschulden. Die aber gibt es nicht. Ein Land kann versuchen, einen Teil seiner Schulden ins Ausland zu verlagern, wie wir es in Deutschland lange getan haben, indem wir unsere Autos in die Welt verkauft haben. Aber die Welt hat kein Ausland. Alle können das also nicht tun. Ein großer Teil der Schulden der Welt hat sich über diesen Mechanismus beispielsweise in die USA verlagert. Die Amerikaner haben nämlich über Jahrzehnte weit mehr importiert als exportiert. Aber das will Trump mit seiner Zollpolitik ja ändern. Und damit hat er vollkommen recht, denn auf lange Sicht funktioniert der Welthandel nur, wenn alle Länder eine ausgeglichene Handelsbilanz anstreben.

Mit den diversen Sondervermögen und hohen Ausgaben für die Bundeswehr macht der Staat ja im Moment relativ viele Schulden.

Aber bei Weitem nicht genug. 2025 macht der Staat alles in allem 100 Milliarden Euro Schulden. Das ist viel zu wenig! Dem stehen nämlich 350 Milliarden Euro in gesamtwirtschaftlichen Ersparnissen gegenüber. Also fehlen am Ende 250 Milliarden Euro in der Wirtschaft, die sinnlos auf irgendeinem Bankkonto vergammeln und nicht ausgegeben werden – wiederum, wenn das Ausland keine Schulden mehr macht.

Wenn man sagt, der Staat muss mehr Schulden machen, muss man natürlich auch sagen wofür.

Wir müssen das ganze Problem andersherum denken. Man sollte sich zuerst fragen, wie viele Schulden der Staat machen muss, damit er sich die bewundernswerte Sparsamkeit seiner Bürger leisten kann. Am klügsten wäre es natürlich, dieses Geld für Investitionen auszugeben, etwa in die Infrastruktur. Aber wir reden von einer Viertelbillion Euro. So viele Investitionsmöglichkeiten gibt es gar nicht. Daher wäre es auch sinnvoll, die Konsumausgaben zu erhöhen. Das wäre etwa über eine Entlastung der ärmsten Menschen in der Gesellschaft möglich. Und gerecht wäre das auch.