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Rundschau-Debatte des TagesBegeht Israel in Gaza einen Völkermord?

4 min
Zerstörte Gebäude in Gaza

Zerstörte Gebäude in Gaza

Eine Expertenkommission des UN-Menschenrechtsrats kommt zu dem brisanten Schluss, dass Israel im Gaza-Krieg einen Genozid begeht. Vier von fünf Tatbeständen der UN-Völkermordkonvention seien erfüllt.

Die Kriegsführung Israels gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen zielt nach Auffassung von Menschenrechtlern auf die Zerstörung der Palästinenser ab. Eine dreiköpfige Kommission, die die Lage im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats untersucht und bewertet hat, kommt zu dem Schluss, dass Israel einen Genozid begeht – also einen Völkermord. Vier der fünf in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 erwähnten Tatbestände seien erfüllt, befindet das Gremium.

„Der Straftatbestand des Völkermordes umfasst Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, führt die Kommission auf. Sie zitiert zum Nachweis zahlreiche Reden und Schreiben der politischen und militärischen Führung Israels, die nach ihrer Überzeugung Völkermordabsichten belegen.

Israel: Antisemitische Neigungen in der UN-Kommission

Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verurteilt den UN-Bericht als skandalös. „Israel weist die verleumderische Tirade kategorisch zurück“, heißt es in einer Erklärung des Außenministeriums, die der Botschafter Israels in Genf, Daniel Meron, verlas. Mit keinem Wort würden dabei die Terrorakte der radikalislamischen Hamas erwähnt. Dabei habe die Hamas ihrerseits die Absicht, einen Völkermord in Israel zu begehen. Meron warf den Kommissionsmitgliedern antisemitische Neigungen vor. Die Kommission hat nach Angaben der Mitglieder auf Anfragen an Israel nie Antworten erhalten.

Israel erkennt wie die USA unter Präsident Donald Trump den UN-Menschenrechtsrat als Autorität nicht an und wirft ihm und seinen Kommissionen grundsätzlich vor, gegen Israel voreingenommen zu sein. Der Menschenrechtsrat besteht aus 47 Ländern, die jeweils für drei Jahre von der UN-Generalversammlung gewählt werden. Der Rat hatte die Kommission 2021 eingerichtet und drei von den UN unabhängigen Experten dafür bestellt.

Experten verlangen Ende von Waffenlieferungen an Israel

Niemand müsse auf ein Urteil des internationalen Gerichtshofs zum Genozid-Vorwurf warten, sagte die Kommissionsvorsitzende, Navi Pillay. Sie war dort früher Richterin und auch UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat bislang nur festgestellt, es bestehe eine „reale und unmittelbare Gefahr“, dass Israels Handlungen und Unterlassungen die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser aus der Genozid-Konvention verletzen könnten. Eine abschließende Beurteilung steht noch aus.

Alle Länder seien schon jetzt verpflichtet, zu handeln, um einen Völkermord zu verhindern, sagte Pillay. Das gehe nicht, wenn man auf ein Urteil warte. „Wir empfehlen allen Mitgliedstaaten, insbesondere denen, die Einfluss auf Israel haben, (...) Waffenlieferungen oder finanzielle Unterstützung, die zu weiteren Völkermordhandlungen beitragen könnten, auszusetzen“, sagte sie.

Zur Position der Bundesregierung hinsichtlich der Beurteilung der Kommission sagte Europa-Staatsminister Gunther Krichbaum in Brüssel: „Zunächst schließen wir uns diesem Urteil nicht an. Wir reden hier nicht von einem Genozid, wenngleich die humanitäre Versorgung der Menschen in Gaza nach wie vor zutiefst besorgniserregend ist.“

Vier Tatbestände des Völkermordes werden als erfüllt angesehen

Die Kommission nennt als erfüllte Tatbestände des Völkermordes: Tötung, schwere körperliche oder seelische Schädigung, vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die auf die vollständige oder teilweise Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung abzielen, und Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten. Zivilisten würden getötet, humanitäre Hilfe blockiert, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie Büchereien, Moscheen und archäologische Stätten systematisch zerstört. Für den fünften Tatbestand, die Wegnahme von Kindern, gebe es keine Anzeichen.

Der Bericht bezieht sich auf die Geschehnisse seit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas und anderer Extremisten auf Israel am 7. Oktober 2023. Israel betont stets, es bekämpfe im Krieg im abgeriegelten Gazastreifen die Hamas und nicht die Zivilbevölkerung. Die Hamas missbrauche die Zivilisten immer wieder als „menschliche Schutzschilde“. Der Krieg könne sofort enden, wenn die Hamas die 48 verbliebenen Geiseln freilasse und die Waffen niederlege. Zugleich begann das israelische Militär allerdings am Dienstag eine Bodenoffensive auf die Stadt Gaza.

Deutsche Juristen: Indizien sprechen für Zerstörungsabsicht

Hatten Experten in Deutschland zu Beginn des Krieges im Gazastreifen noch vor vorschnellen Genozid-Vorwürfen gewarnt, so kommen einige Juristen inzwischen zu einer anderen Einschätzung. Zu ihnen zählt etwa Kai Ambos, Völkerrechtler der Universität Göttingen, der in diesem Sommer in einem gemeinsamen Aufsatz mit Stefanie Bock, Professorin für Internationales Strafrecht in Marburg, seine veränderte Einschätzung erklärte. Es falle mit jedem Tag, den dieser Krieg in dieser Form fortgesetzt werde, schwerer, den Genozid-Vorwurf abzulehnen.

In dem Beitrag für die „Deutsche Richterzeitung“ ziehen Bock und Ambos das Fazit: „Zusammengefasst spricht die Dynamik des Konfliktgeschehens in einer Gesamtschau mittlerweile eher für statt gegen einen Genozid.“ Die von Israel angeführten Kriegsziele – vor allem die Zerschlagung der Hamas – stellen aus ihrer Sicht keinen Widerspruch dar. Vielmehr machen sie deutlich, dass Israel durchaus mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen könne. Eine Genozid-Absicht könne dennoch bestehen. „Sie kann durchaus mit militärischen Erwägungen und sicherheitspolitischen Beweggründen zusammentreffen.“ (dpa)