Der britisch-französische Anwalt und Autor Philippe Sands sieht das internationale Recht unter Druck. Im Interview äußert er sich zu Israels Militärschlägen in Gaza, der deutschen Staatsräson und Donald Trump.
Völkerrechtler SandsSollten wir Israel weiter Waffen liefern?

Palästinensische Gebiete, Rafah: Palästinenser tragen Taschen mit Lebensmitteln und humanitären Hilfspaketen
Copyright: Abdel Kareem Hana/AP/dpa
In einer globalisierten Welt soll das internationale Recht ein Maßstab für richtiges und falsches Handeln sein. Tatsächlich ist es seit Jahren unter erheblichem Druck. Einer, der sich der Entwicklung entgegenstellt, ist Phillipe Sands. Jüngst hat der britisch-französische Völkerrechtler, Anwalt und Autor für sein Engagement den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück bekommen. Thomas Ludwig hat ihn dort getroffen, wo das Ende des Dreißigjährigen Krieges 1618 im „Westfälischen Frieden“ seinen Anfang nahm.
Herr Sands, Sie sind Jude und haben Palästina als Anwalt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vertreten. Worum ging es dabei und haben Sie nicht gezögert, die Palästinenser zu vertreten?
Es handelte sich um ein Ersuchen der Generalversammlung der Vereinten Nationen um ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Ich sagte, das sei überhaupt kein Problem. Meine Aufgabe als Anwalt ist der Dienst an der Gerechtigkeit und an der Rechtsstaatlichkeit. Die Tatsache, dass ich für Palästina im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht eingetreten bin, macht mich weder antiisraelisch noch antisemitisch. Letzteres ist ja offensichtlich.
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Am geschichtsträchtigen Ort: Philippe Sands, Preisträger des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises im Friedenssaal des Osnabrücker Rathauses.
Copyright: Swaantje Hehmann
Und dann kam die Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 und die Hamas tötete mehr als 1000 Israelis. Welche Wirkung hatte das auf Sie?
Gemeinsam mit sechs anderen britischen jüdischen Anwälten habe ich in der Financial Times drei Punkte klargestellt. Erstens: Die Geschehnisse des 7. Oktobers waren nach internationalem Recht ein Verbrechen. Zweitens: Israel ist berechtigt, das Recht auf Selbstverteidigung auszuüben, um sich zu schützen. Und drittens: Die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts muss sich innerhalb vom internationalen Recht vorgesehenen Grenzen bewegen.
Ist der nicht enden wollende Nahostkonflikt mit seiner Eskalation nach dem Hamas-Anschlag nicht das beste Beispiel für die Ohnmacht des Völkerrechts und seiner Institutionen?
Auch im innerstaatlichen Recht erreicht das Gesetz oft seine Ziele nicht. Seit Jahrhunderten gibt es Gesetze, die Mord und Vergewaltigung verbieten, und doch begehen Menschen weiter solche Verbrechen. Das ist auf internationaler Ebene nicht anders, egal ob mit Bezug zum Angriff Russlands auf die Ukraine, den Bürgerkrieg im Sudan oder eben Palästina und Israel. Das heißt aber nicht, dass das Völkerrecht nutzlos ist. Es bietet einen Rahmen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit bestimmter Handlungen. Und so müssen wir darauf hoffen, dass sich die Situation normalisiert, dass der Frieden zurückkehrt und dass es eine Rechenschaftspflicht für Verstöße gegen das Recht gibt.
Ist das militärische Vorgehen Israels in Gaza noch verhältnismäßig oder sind wir längst Zeugen eines Genozids?
Das Vorgehen Israels in Gaza ist ganz klar nicht mehr verhältnismäßig, es geschieht Unrecht, und es werden unbestreitbar Verbrechen begangen. Sind es Kriegsverbrechen? Handelt es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Geht es um Völkermord, um Genozid? Ist es von allem etwas? Letztlich müssen das internationale Gerichte entscheiden, entsprechende Klagen sind bekanntermaßen anhängig. Doch egal, wie man das aktuelle Vorgehen Israels labelt: Es sollte umgehend stoppen. Um es kristallklar zu sagen: Israel hat das Recht, in Sicherheit zu existieren, wie jeder andere Staat. Aber wie jeder andere Staat hat auch Israel die Pflicht, im Einklang mit dem Gesetz zu handeln. Und das ist nicht länger der Fall.
Sollte die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu tatsächlich zwei Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen vertreiben und sich das Gebiet unter Verletzung des Völkerrechts aneignen, was ist dann noch der Unterschied zwischen ihm und Wladimir Putin?
Es gibt keinen. Und bei der Haltung so manchen westlichen Landes sehen wir in dieser Hinsicht eine erhebliche Doppelmoral. Sie befürworten nachdrücklich, dass der Internationale Strafgerichtshof die Gerichtsbarkeit über Wladimir Putin ausübt, aber sie lehnen es strikt ab, dass der IStGH die Gerichtsbarkeit über den Regierungschef von Israel ausübt.
Hier gilt Israels Sicherheit als Staatsräson. Ist das nur noch eine Worthülse?
Ich verstehe, dass es in Deutschland ein Gefühl der historischen Verantwortung gibt, und deshalb hat Israel einen besonderen Platz. Aber das ist nicht wirklich hilfreich, man hat sich damit in eine schwierige Lage manövriert. Wenn Ihr Freund gegen das Gesetz verstößt, ist es das Beste, was Sie als Freund tun können, es ihm zu sagen und ihn zu ermutigen, es zu beenden. Bundeskanzler Merz und der deutsche Außenminister haben in den vergangenen Tagen ziemlich deutliche Worte gegenüber der israelischen Regierung gefunden, es zeichnet sich ein gewisses Umdenken ab. Es ist einfach nicht akzeptabel, was in Gaza passiert. Und wenn man schweigend zusieht, besteht die Gefahr, dass man sich mitschuldig macht.
Sollte Deutschland die Lieferung von Waffen an Israel einstellen?
Mir ist nicht bekannt, was Deutschland im Einzelnen militärisch alles an Israel liefert. Was ich aber weiß, ist, dass ein Land, das im Zusammenhang mit den heutigen Ereignissen in Gaza Munition an Israel liefert, Gefahr läuft, rechtlich gesehen ein Problem zu bekommen. Mein Rat wäre also, sehr sorgfältig abzuwägen, bevor man weiterhin Waffen liefert. Niemand kann sich an Verbrechen, die in Gaza stattfinden, mitschuldig machen wollen.
Hat eine Zwei-Staaten-Lösung noch eine Chance?
Ich bin ein Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung. Wie bereits 147 Staaten auf internationaler Ebene sollten auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien Palästina als unabhängigen Staat anerkennen. Denn daraus ergeben sich ja nicht nur Rechte für einen Staat, sondern auch Pflichten. Das Argument, dass man warten sollte, bis es eine Verhandlungslösung gibt, akzeptiere ich nicht. Als Israel nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, hatten die arabischen Länder kein Vetorecht. Warum sollte Israel heute also ein Vetorecht haben?
Ist mit einer Regierung Netanjahu überhaupt eine Chance auf Frieden gegeben? Premier Netanjahu hat ausdrücklich gesagt: Es wird niemals einen Staat Palästina geben.
Also nein?
Es gibt ein Porträt von Netanjahu mit einem Foto, auf dem er mein Buch „East West Street“ liest und sagt, dies sei eines der besten Bücher. Er weiß also alles über Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.
Vielleicht hat er Ihr Buch nicht aufmerksam genug gelesen?
Es hat den Anschein, dass Premier Netanjahu ein halbwegs losgelöstes Verhältnis zum internationalen Recht hat.
Kritik an Israels Politik wird schnell als Antisemitismus gebrandmarkt. Was sagen Sie?
Man ist mit dem Vorwurf des Antisemitismus oft viel zu schnell bei der Hand. Ja, Antisemitismus ist ein drängendes Problem. Und auch Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie sind reale Probleme, das müssen wir im Auge behalten. Aber einen Staat dafür zu kritisieren, dass er gegen internationales Recht verstößt, ist gerechtfertigt, wenn er rote Linien überschreitet und damit internationales Recht verletzt – egal welche Hautfarbe die Menschen in einem Land haben, welcher Ethnie oder welcher Religion sie mehrheitlich angehören.
US-Präsident Trump rechtfertigt mit dem Kampf gegen Antisemitismus das harte Vorgehen gegen missliebige Universitäten in den USA, wie Harvard, an deren Rechtsfakultät auch Sie lehren. Wie sehr beunruhigt sie das?
Ich bin selbst Jude, ich bin also höchst sensibel, was Antisemitismus angeht. Und es gibt ihn. Ich werde aber unruhig, wenn Leute Antisemitismus, Islamophobie oder andere fremdenfeindliche rassistische Ausdrücke benutzen, um bestimmte Aktionen zu rechtfertigen. Das macht mich wirklich nervös. Niemand weiß besser, wohin diese Dinge führen können, als die Menschen in Deutschland. Da wird immer mehr an den Schrauben gedreht und ehe man sich versieht, werden Leute von der Straße geholt, werden inhaftiert oder verschwinden gar. Deshalb gilt es, sehr wachsam sein.
Sehen Sie die USA auf dem Weg in den Autoritarismus?
Ob die USA den Weg Richtung Autoritarismus beschreiten, ist noch nicht entschieden. Präsident Trump treibt die Dinge sehr weit, reizt rechtliche Grenzen aus. Nun wird es darum gehen, wie sich Richter und Gerichte in den USA verhalten. Bislang erweisen sie sich als ziemlich robust. Es gibt Hunderte von Klagen gegen die Durchführungsverordnungen der Trump-Administration. Und in vielen, vielen Fällen wurden die Maßnahmen ausgesetzt. Der Test für die Verfassungs- und Rechtsordnung der Vereinigten Staaten ist also, ob sie die Rechtsstaatlichkeit gewährleisten kann.