Interview mit Kölner Grünen-Politiker„Ich finde, Köln könnte ambitionierter sein“

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Sven Lehmann (Grüne) spricht im Rundschau-Gespräch über die Energiekrise und Konflikte in der Ampel.

Sven Lehmann (Grüne) spricht im Rundschau-Gespräch über die Energiekrise und Konflikte in der Ampel.

Sven Lehmann (43) ist erster direkt gewählter Bundestagsabgeordnete der Kölner Grünen, Staatssekretär im Familienministerium und Queer-Beauftragter der Bundesregierung. Beim Besuch im Rundschau-Haus sprach er über ein Jahr Ampel in Berlin und ungenutzte Potenziale in Köln.

Herr Lehmann, wie ist es für Ihre Partei, wenn die grüne NRW-Vize-Ministerpräsidentin Mona Neubaur sich hinstellen und die anstehende Räumung von Lützerath verteidigen muss?

Regieren heißt, an manchen Stellen sehr, sehr hart ringen zu müssen. Wir sind sowohl in Berlin als auch in Düsseldorf in Koalitionen, wo die Partner nicht immer das wollen, was wir wollen. Dennoch ist uns gelungen, den Kohleausstieg in NRW auf 2030 vorzuziehen. Das ist ein klarer grüner Erfolg. Laut Gutachten der Landesregierung wird aus Gründen der Energiesicherheit die Kohle unter Lützerath gebraucht. Das wird von der Klimabewegung angezweifelt. Der Bürgermeister von Erkelenz will das Dorf Lützerath nicht räumen lassen. Die Landesregierung täte gut daran, den Dialog mit der Klimabewegung zu suchen, um die Situation zu deeskalieren. Im Falle einer Räumung dürfen keine Menschen zu Schaden kommen.

Warum haben die Grünen nicht längeren Laufzeiten für die drei verbliebenen Atomkraftwerke zugestimmt?

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Eine dauerhafte Verlängerung der Atomkraft wäre viel zu teuer und hätte keinen nennenswerten Effekt auf die Energiesicherheit und insbesondere nicht auf die Gasversorgungslage. Und wir müssten dafür neue Uranbrennstäbe kaufen. Die Grünen haben sich klar dagegen ausgesprochen, weil Atomenergie die unsicherste und teuerste Energieform ist. Dem eng befristeten Streckbetrieb von drei AKW bis April haben wir letztlich zugestimmt, um unsere Energieversorgung in der aktuellen Situation breiter aufzustellen. Da haben wir uns in der Koalition sehr bewegt.

Die Ampel ist ein Jahr im Amt. Unser Eindruck ist, dass es immer öfter Krach gibt.

Die Ampel ist als Aufbruch nach 16 Jahren Angela Merkel und CDU/CSU in der Regierung gestartet. SPD, Grüne und FDP sind Parteien, die sich nicht unbedingt gesucht haben im Wahlkampf, die sich aber dann gefunden haben und seitdem stabil regieren. Insbesondere unter dem hohen Stresstest, der Putins Angriffskrieg auf die Ukraine bedeutet. Wir liegen bei einigen Themen auseinander, wie Finanzen und Verkehr. Aber das Gute ist, dass wir immer Lösungen finden. Nach 16 Jahren Merkel haben alle geklagt: Es gibt keine politischen Debatten mehr, alles wird zugekleistert. Das kann man jetzt nicht mehr sagen.

Erst die AKW-Verlängerung, dann die Beteiligung Chinas am Hamburger Hafen: Wie viele Machtworte von Kanzler Scholz verträgt die Koalition noch?

Autokratischen Ländern wie China dürfen wir nicht unsere kritische Infrastruktur ausliefern. Wir Grünen haben mit dafür gesorgt, dass die Beteiligung am Hamburger Hafen auf unter 25 Prozent begrenzt wurde und China somit kein Vetorecht zusteht. Dass der Kanzler die Richtlinienkompetenz hat, steht ja im Grundgesetz. Dieses scharfe Schwert sollte man aber nur in Ausnahmefällen ziehen, das ist dem Kanzler auch bewusst. Auf Augenhöhe zu regieren in einer Koalition funktioniert immer besser. Ich bin mir sicher, dass die Koalition bis zur nächsten Bundestagswahl stabil bleibt und kann mir sogar vorstellen, dass sie danach erneut zusammenfindet. Das geht natürlich nur, wenn man sich vertraut.

Die Grünen propagieren einen Boykott der Fußball-WM in Katar wegen der Menschenrechtslage, gleichzeitig kauft der grüne Minister Habeck in Katar Gas. Wie passt das zusammen?

Dass Putin Gaslieferungen als Waffe einsetzen könnte, davor haben die Grünen seit Jahren gewarnt. Und standen damit oft alleine. Die Energie-Abhängigkeit von Russland ist Folge politischer Fehlentscheidungen der Vergangenheit. Wir müssen diese Abhängigkeit beenden, dafür sind Lieferungen aus anderen Ländern notwendig. Ich finde es auch nicht gut, für 15 Jahre Gas aus Katar zu kaufen, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Aber wir brauchen dieses Gas als Brücke, um unabhängig zu werden von Russland.

Nach 16 Jahren Merkel haben alle geklagt: Es gibt keine Debatten mehr.
Sven Lehmann

Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt den Turbo einlegen, um insgesamt unabhängig von fossilen Energien zu werden. Menschenrechtsverletzungen wie in Katar oder anderen Staaten wie Iran werden wir weiterhin anprangern und uns an die Seite der Menschenrechtsverteidiger stellen.

Als Queer-Beauftragter setzen Sie sich für   die LSBTIQ-Community ein, planen ein neues Selbstbestimmungsgesetz. Was entgegnen Sie auf die Kritik, Kinder würden immer früher sexualisiert und vom „normalen“, traditionellen Familienbild entfernt?

In einer Gesellschaft, die aus verschiedensten Persönlichkeiten besteht und die von Vielfalt geprägt ist, gibt es kein Normal. Es gibt Menschen in all ihrer Vielfalt und in dieser Vielfalt haben sie gleiche Rechte und gleiche Würde verdient. Das wird in einigen Gesetzen leider noch nicht ausreichend anerkannt. Wir haben seit über 40 Jahren ein Transsexuellengesetz, das massiv die Würde des Menschen verletzt. Es zwingt Menschen, die einfach nur ihre geschlechtliche Identität vom Staat anerkannt haben möchten, zu psychiatrischen Gutachten. Ein Gericht muss dann entscheiden, ob sie die Person sein dürfen, die sie sind. Dieses Gesetz wollen wir abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Es sieht vor, dass man ab 18 Jahren seinen Geschlechtseintrag in Ausweisdokumenten einfach gegenüber dem Standesamt erklären kann, ohne Gutachten. Von 14 bis 17 Jahren mit Zustimmung der Eltern.

Ich finde, Köln könnte ambitionierter sein.
Sven Lehmann

Was die Aufklärungsarbeit betrifft: Ich hätte es mir in meiner Schulzeit gewünscht, dass in einem Schulbuch auch mal steht: Es ist okay, wenn sich ein Mädchen in ein Mädchen verliebt. Das ist weder Propaganda, noch Sexualisierung, das ist einfach nur die Anerkennung der Realität. Junge Menschen sollten in einem Klima groß werden, in dem es egal ist, in wen sie sich verlieben. Und dass das nicht falsch oder unnormal sein kann. Sondern dass sie richtig sind, wie sie sind. Da haben wir noch Nachholbedarf.

Die Grünen wollen in Köln weniger Autoverkehr, doch das Angebot von Bus und Bahn reicht für viele in der Region nicht aus. Wie wollen Sie dieses Dilemma lösen?

Die Priorität beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur muss in Zukunft eindeutig auf der Schiene liegen. Ich halte es für völlig aus der Zeit gefallen, immer neue Autobahnabschnitte zu bauen. Nehmen wir die „Rheinspange“, die geplante neue Autobahnbrücke im Kölner Süden. Alle Untersuchungen sagen, dass sie schlecht für die Umwelt wäre und die landwirtschaftlichen Flächen, die wir dringend brauchen, um regionale Lebensmittel zu erzeugen. Sie trotzdem zu bauen, wäre wie mit dem Kopf durch die Wand zu laufen. Deutschland hat ja keinen Mangel an Autobahnen, sondern an gut sanierten Straßen, Brücken und Schienen. Erhalt muss vor Neubau gehen.

Werden die Grünen bei der Kommunalwahl 2025 in Köln einen eigenen Oberbürgermeister-Kandidaten aufstellen?

Das muss unser Anspruch sein, ja.

Stehen Sie zur Verfügung?

Ich bin mit Herzblut Abgeordneter im Bundestag. Ich vertrete dort meinen Wahlkreis im Kölner Südwesten und würde das auch gerne weiter tun.

Wie ist der Blick aus Berlin nach Köln? Ist Köln eher Provinz, weil man sich hier selbst genug ist?

In Berlin läuft ja längst nicht alles rund, siehe das Desaster um die Wiederholung der Wahl. Aber das ist ja auch das Sympathische an Köln, dass es sich selbst genug ist. Aber es ist gleichzeitig auch etwas, was einen an Köln manchmal nerven kann. Ich finde, Köln könnte ambitionierter sein. Ich fände zum Beispiel gut, wenn die Stadt Köln die vielen Förderprogramme von Bund und Land noch stärker nutzen würde. Köln kann sich bei Bund und Land noch mehr Gehör verschaffen.

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