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Dynamisch und zeitgemäßDöblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ als Premiere am Schauspiel Köln

4 min
Blick auf die bildgewaltige Inszenierung von „Berlin Alexanderplatz“.

Blick auf die bildgewaltige Inszenierung von „Berlin Alexanderplatz“.

Die Premiere von „Berlin Alexanderplatz“ zeigt Döblins Klassiker modernisiert, mit Live-Streams und einem beeindruckenden Schauspielensemble.

Was für ein Auftakt: Live-Videoprojektionen auf die Rückwand einer Bühne, deren Boden und Decke verspiegelt sind. Das Ensemble agiert im atemberaubenden, atemlosen Stakkato, irgendwo zwischen Rap und Gosse, zwischen Klubkultur und Halbwelt. Mit einem überbordenden Furor katapultiert Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer Alfred Döblins fast 100 Jahre alten Klassiker „Berlin Alexanderplatz“ und dessen Hauptfigur Franz Biberkopf im Depot 1 des Schauspiel Köln in die Gegenwart.

Aus der pulsierenden Metropole Berlin der Weimar Zeit wird das heute allwährend flimmernde Internet: Der Kneipentumult wird per Live-Stream gezeigt, Dialoge via FaceTime geführt. Und aus den Litfaßsäulen und Plakatwänden wird eine Dauerberieselung aus Clips und Reels. Alles ist schneller, bunter, härter, die Überforderung, die wir heute oft verspüren, dürfte in ihrem Ausmaß derjenigen gleichen, mit der sich die Menschen vor 100 Jahren konfrontiert sahen.

Nicht aus der Zeit gefallen

Und so wirkt auch die Geschichte nicht wie aus der Zeit gefallen: Biberkopf ist grad aus dem Knast entlassen worden, dort hatte er eine Strafe wegen Totschlags verbüßt: Seine Freundin war, nachdem er sie verprügelt hatte, an den Verletzungen gestorben. Wieder frei, gerät er wieder in die schlechte Gesellschaft, in der er sich schon vor der Haft bewegt hatte.

Und so kommt schnell eines zum anderen: Die Freundinnen, die er mit seinen Kumpanen austauscht, werden anschaffen geschickt, statt wie zunächst Zeitungen zu verkaufen, schließt er sich einer Diebesbande an. Auf einer dieser Touren wirft ihn einer seiner Kumpel, Reinhold, aus dem fahrenden Auto, wodurch Biberkopf seinen Arm verliert.

Auf zwei Stunden eingedampft

Danach gerät sein Leben vollends aus den Fugen: Während ihn Freunde auffordern, sich für den Verlust des Arms zu rächen, lässt er seinen Frust und seine Wut an seiner aktuellen Freundin Mieze aus. Am Ende landet er in einer Anstalt - und stirbt.

Was Döblin über (je nach Ausgabe) rund 500 Buchseiten erzählt, dampft Schmidt-Rahmer in seiner Fassung auf zwei Stunden ein. Kein Wunder, wenn da   die Handlungsabläufe nicht immer ganz nachvollziehbar sind (die Lektüre einer ausführlichen Inhaltsangabe des Buches ist vor dem Besuch der Inszenierung mehr als nur empfehlenswert). Vertiefte Charakterstudien kann man in einer so kurzen Zeit nicht erwarten. Und durch so manchen Tumult auf der Bühne geht auch Franz Biberkopfs politische Wandlung gen Rechts unter.

Bildgewaltiger Abend

Doch das braucht es auch nicht an diesem bildgewaltigen Abend. Auf die optisch herausfordernde Eingangssequenz folgen viele weitere ästhetisch und handwerklich überraschende Szenen. Pia Maria Mackert (Bühne), Michael Sieberock-Serafimowitsch (Kostüme), Jürgen Kapitein (Licht) und vor allem Mario Simon (Videoart) liefern aus ihren jeweiligen Bereichen so viele kreative Beiträge, dass man fast erschlagen wird.

Aber eben auch nur fast. Denn Hermann Schmidt-Rahmer, der von 1987 bis 1990 im Ensemble des Schauspiel Köln war und in dieser Zeit hier auch zum ersten Mal Regie geführt hat, arrangiert die Zutaten so delikat, dass es nicht zu einer Übersättigung kommt. Die Bilder, die er entstehen lässt, sind in Form und Farbe durchkomponiert, das sprichwörtliche Kaleidoskop stoppt immer lang genug, um das Auge zu verblüffen.

Genug Luft für das Ensemble

Und vor allem lässt Schmidt-Rahmer dem Ensemble immer genug Luft, seine Kunst zu zelebrieren. Diskussionswürdig ist dabei vielleicht sein Ansatz, den Biberkopf in jedem Akt wechselnd von Jonas Dumke, Leonhard Hugger, Fabian Reichenbach, Franziska Annekonstans Winkler und Uwe Rohbeck spielen zu lassen. Eine Idee, die man schon oft, um nicht zu sagen, allzu oft gesehen hat.

Aber auch hier geht der Regisseur mit Bedacht vor, die Übergänge von einem zum nächsten Franz sind so klar gestaltet. Und: Alle fünf liefern eine überzeugende Darstellung ab, ihnen wird jedoch die Möglichkeit genommen, die Entwicklungen der Figur zu gestalten. Als Moment der Unsicherheit bleibt auf Zuschauerseite die Frage des Warum, die sich - vielleicht aufgrund des Tempos - nicht von selbst beantwortet.

Herausragende Leistungen

Dafür werden die verschiedenen Nebenfiguren durchgängig von derselben Person gespielt, wodurch eine gewisse Ruhe gewährleistet ist - und viele herausragende Leistungen entstehen können. An Anja Laïs und ihrem Reinhold in Johnny-Depp-Optik mag man sich nicht sattsehen. Auch Jenny Ngamou liefert mit dem Luden Herbert eine veritable Drag King-Performance ab und lässt Geschlechtergrenzen hinter sich. Agnes Hestholm steht als Eva sowie als Tod - wortwörtlich - über allen. Und Louisa Beck lässt als Franz letzte Freundin Mieze, ohne mit der Wimper zu zucken, Zerbrechlichkeit auf Stärke folgen.

Schon bei Döblin sind es die Frauen, die stark sein müssen, während die Typen an ihren eigenen Ansprüchen scheitern - und dies an den Frauen an ihrer Seite auslassen. Daran hat sich nicht allzu viel geändert.

Einhelliger, stürmischer Applaus bei der Premiere.

120 Minuten (keine Pause). Wieder am 23. und 25.12., 4., 16., 17. und 30.1. sowie 5. und 25.2.