Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Wim WendersDer große Reisende

4 min
Wim Wenders in der Ausstellung vor Bild und requisite von "Der Himmel über Berlin"

Wim Wenders in der Ausstellung vor Bild und requisite von 'Der Himmel über Berlin'  

Bundeskunsthalle widmet Wim Wenders die Retrospektive "Die Kunst des Sehens" zum 80. Geburtstag.

Man stelle sich einmal vor, Wim Wenders’ winzige Studentenwohnung im Paris der 1960er Jahre wäre besser beheizt gewesen. Dann wäre er vermutlich nicht jeden Tag in den Kinosaal des Filminstituts Cinémathèque française geflohen, um sich aufzuwärmen, hätte nicht Meisterwerke wie „Easy Rider“, „Jules et Jim“ oder „Das siebente Siegel“ gesehen, wäre womöglich nie an die Filmhochschule in München gegangen. Vielleicht würde man dann heute über Wim Wenders, den Maler, oder Wim Wenders, den Philosophen, sprechen.

Engel als Metapher

Was er ja irgendwie auch beides ist. Im kollektiven Gedächtnis steht er aber vor allem als: Wim Wenders, der einflussreiche Filmemacher.  Zum 80. Geburtstag des Regisseurs am 14. August widmet ihm die Bundeskunsthalle nun eine Retrospektive: „W.I.M. – Die Kunst des Sehens“.

Und so wie sich Wenders selbst als „Reisender und dann erst als Regisseur oder Fotograf“ versteht, so lässt sich auch die Bonner Schau als visuelle Reise lesen. Detailreich setzt sich dort ein Mosaik aus Fotografie, Kunst, Kino und Musik zusammen, das von Sehnsuchtsorten, Inspiration und dem Blick des Regisseurs erzählt. Wie unverwechselbar dieser Blick ist, zeigt sich mit dem ersten Schritt in die Ausstellungsräume.

Alles zum Thema Drachenfels

Kaum hat man die Eingangstür hinter sich gelassen, schon zieht jene ikonische Aufnahme aus „Der Himmel über Berlin“ die Aufmerksamkeit auf sich: Bruno Ganz als melancholischer Engel Damiel, der bereit ist, seine Unsterblichkeit für die Liebe aufzugeben. Hoch oben über den Dächern thront er in seinem langen, schwarzen Mantel, neigt den Kopf gen Erde, wacht behutsam über die Seelen der Stadt. „Für mich waren Engel vor allem eine Metapher für den besseren Menschen, den wir in uns tragen und der wir oft so gerne wären, nämlich das Kind in uns“, hat Wenders einst gesagt.

Kinderzeichnung vom Drachenfels

Seine eigene Kindheit erlebte er mitten im Ruhrgebiet. Wenders wurde am 14. August 1945 in Düsseldorf geboren, wenige Jahre später zog seine Familie nach Oberhausen. Sein Nachkriegsalltag war von grauer Industrie geprägt, früh fand er jedoch einen Kontrapunkt in Museen und den Kunstdrucken von van Gogh und Corot in seinem Elternhaus. Malereien von Landschaften und qualmenden Schloten, Aquarelle und Comics – in der Bundeskunsthalle ist Wenders’ künstlerisches Frühwerk erstmals in dieser Fülle zu sehen.

Besonders bezaubernd für Bonnerinnen und Bonner: eine Kinderzeichnung vom furchtlosen Siegfried vor dem Drachenfels. 1966 zog Wenders nach Paris, um Maler zu werden. Dann kam allerdings jener kalte Winter in der unbeheizten Dachkammer und die unzähligen Stunden in der Cinémathèque française. „Einen wahren Crashkurs in Filmgeschichte habe ich da hinter mich gebracht“, berichtet Wenders im charmanten Audioguide zur Ausstellung, den er persönlich eingesprochen hat. Filmgeschichte hat er inzwischen längst selbst geschrieben.

In Bonn gibt es Ausschnitte aus seinen wichtigsten Werken zu sehen, darunter „Alice in den Städten“, „Im Lauf der Zeit“, „Paris, Texas“, „Pina“ oder „Perfect Days“. Jeweils an den Stellwänden gegenüber sammeln sich Storyboards, Requisiten oder Polaroids von den Dreharbeiten. Die Dramaturgie der Schau etabliert an neun Stationen eine Art Zwiegespräch: hier das bekannte Werk, dort der Blick hinter die Kulissen, entdeckt die Geschichten hinter den Geschichten.

Immersiver Kinoraum

Ob zu Fuß durch Berlin, im Auto durch Texas oder im Möbeltransporter an der deutsch-deutschen Grenze entlang – Wenders’ Erzählen ist nicht nur, aber oftmals von einer Suche geprägt. Sowohl in seinen großformatigen Farbfotografien als auch in seinen Spielfilmen. Da gibt es keine großen Worte, keine schnellen Schnitte, keine moralischen Thesen. Emotionen transportieren sich stattdessen über die Leerstellen, die der Regisseur setzt, über die Sehnsucht und Rastlosigkeit seiner Figuren, über den legendären Soundtrack. All dies vereint sich im unverkennbaren Herzstück der Ausstellung: einem immersiven Kinoraum, den Wenders eigens für die Bonner Räume konzipiert hat.

Wahre Schätze

Es ist ein 360-Grad-Filmerlebnis, eine knapp halbstündige Kompilation aus 24 seiner Filme. Das Publikum kann sich auf Sitzkissen niederlassen, den Blick auf die fünf raumhohen Wände ringsum richten, vollends eintauchen in die visuelle und musikalische Welt des Regisseurs. Ebenso bemerkenswert ist der Archivraum. Dort befinden sich Originaldrehbücher, handschriftliche Notizen oder Korrespondenzen zu Wenders’ Filmen, darunter Briefe von Willy Brandt, Nastassja Kinski oder Peter Handke – wahre Schätze, die man nur selten zu Gesicht bekommt. An diesem Ort könnte man ganze Tage verbringen.

Das gilt auch für die gesamte Schau. Kuratiert wurde sie von Susanne Kleine (Bundeskunsthalle) sowie Isabelle Louise Bastian und Hans-Peter Reichmann (Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt), einem eingespielten Trio, das 2021 schon die große Fassbinder-Ausstellung verantwortete. Erneut haben sie einen Detailreichtum erschaffen, der sich kaum bei einem einzigen Besuch erfassen lässt. Ein Glück, dass die Ausstellung noch bis Januar 2026 läuft.

Bis zum 11. Januar, Do bis So 10 – 21 -Uhr, Friedrich-Ebert-Allee 4.