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Angela Merkel im Interview„Ich habe immer das Credo von Maß und Mitte vertreten“

Lesezeit 13 Minuten
01.05.2025, Niedersachsen, Hannover: Altkanzlerin Angela Merkel steht bei ihrem Besuch des 39. Deutschen Evangelischen Kirchentages auf einer Bühne. Foto: Moritz Frankenberg/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

5860 Tage lang, vom 20. September 2005 bis zum 8. Dezember 2021, war Angela Merkel Bundeskanzlerin. Nur Helmut Kohl amtierte noch länger – genau zehn Tage länger.

Noch immer gibt es mit Angela Merkel viel zu besprechen. 16 Jahre lang hat die CDU-Politikerin Deutschland regiert. Ob Corona, Migration oder die Krisen und Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten – ihre Entscheidungen als Bundeskanzlerin wirken nach. Im Interview erklärt sie auch, wie sie auf Donald Trump schaut.

Frau Merkel, wie normal kann man sich Ihr Leben als Rentnerin heute vorstellen?

Ein durchschnittlicher Tag sieht natürlich entspannter aus als früher. Trotzdem bin ich häufig in meinem Büro als Bundeskanzlerin a. D. Ich bekomme noch immer sehr viele Anfragen, die ich gar nicht alle bedienen kann: Einladungen, Autogrammwünsche. Die Tage sind durchaus ausgefüllt, aber mit mehr Freizeit, besonders an den Wochenenden.

Gibt es etwas Neues in Ihrem Leben, für das Sie früher keine Zeit hatten und das Sie jetzt umso mehr genießen?

Neu ist, dass ich zusammen mit Beate Baumann meine Erinnerungen als Buch geschrieben habe, dass ich mich wieder um Freundschaften kümmern kann, dass ich in Ausstellungen gehen kann, dass ich mal ins Kino gehen kann, dass ich mich mehr um meinen uckermärkischen Garten kümmern kann.

Immer mehr Menschen meiden Nachrichten. Geht Ihnen das auch so, schalten Sie heute häufiger mal ab?

Mich interessiert das viel zu sehr, dazu war ich viel zu lange dabei. Aber ich muss heute nicht mehr jede Stunde aufs Handy gucken, ich muss nicht in Windeseile irgendetwas entscheiden. Ich habe viel mehr Selbstbestimmtheit im Leben, und das genieße ich auch.

Wenn Sie dieser Tage Bilder von Friedrich Merz beim G7-Gipfel sehen: Überwiegt da die Erleichterung, nicht mehr dabei zu sein, oder das Bedauern?

Die Bilder sind mir vertraut, ich kann mir so ungefähr vorstellen, wie es abläuft, aber es gibt keine Wehmut. Wenn ich nach einer Legislaturperiode abgewählt worden wäre, dann wäre ich vielleicht traurig, dass ich das nicht oft genug erlebt hätte. Aber 16 Jahre als Bundeskanzlerin sind eine unwahrscheinlich lange Zeit. Jetzt denke ich mir einfach: Das ist bestimmt jetzt für den neuen Bundeskanzler Friedrich Merz auch ein Höhepunkt, so einen Gipfel zu besuchen.

Ich will aber darauf hinweisen, dass es immer noch sehr, sehr viele Menschen gibt, die nicht AfD wählen.

Der Osten hat bei der Bundestagswahl vor allem die AfD gewählt. Sie selbst polarisieren als Person im Osten besonders stark, schmerzt Sie das?

Der Osten hat sehr stark AfD gewählt, was die Bundestagswahlkreise anbelangt, das muss man schon sagen. Ich will aber darauf hinweisen, dass es immer noch sehr, sehr viele Menschen gibt, die nicht AfD wählen. Sie möchte ich jedenfalls nicht in Vergessenheit geraten lassen. Natürlich bedauere ich, dass jetzt auch zum Beispiel mein ehemaliger Wahlkreis direkt von der AfD gewonnen wurde.

Wie lautet denn Ihre Erklärung für die Begeisterung, die die AfD dort ganz offensichtlich entfacht, Ihre CDU aber nicht mehr?

Mich hat vor allem überrascht und erstaunt, wie stark die AfD inzwischen auch in den alten Bundesländern ist, zum Beispiel in Bayern bei fast 20 Prozent. Das finde ich sehr bedenklich und zeigt, dass es nicht allein das ostdeutsche Vergangenheitsmuster sein kann, das diese AfD-Ergebnisse erklärt. Woran es liegt? Ich habe darauf keine abschließende Antwort, aber wir dürfen die Wähler nicht aufgeben, sondern müssen sie durch gute Regierungspolitik zurückgewinnen. Zugleich muss man ganz klar sagen, dass man mit dem, was die AfD vertritt, keine gemeinsame Sache machen kann. Man muss sich klar abgrenzen.

Halten Sie die AfD für eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie?

Wenn die AfD in Regierungsämter kommt, würde ich sagen, ist sie eine Gefahr für die Demokratie. Auch ist vieles, was von AfD-Vertretern geäußert wird, mit der Demokratie nicht zu vereinbaren. Es ist zum Beispiel nicht durch das Grundgesetz gedeckt, die deutsche Staatsbürgerschaft von Migranten gleichsam als Staatsbürgerschaft zweiter Klasse zu betrachten. Wenn Sie nach der Diskussion über ein Verbot fragen, halte ich mich allerdings zurück, weil ich nicht mehr die juristischen Möglichkeiten habe, das einzuschätzen.

Sie waren die erste deutsche Kanzlerin – finden Sie, dass es 2027 eine erste Bundespräsidentin geben sollte?

Noch nie war eine Frau im höchsten Staatsamt. Ich kann zwar die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung für 2027 nicht genau voraussagen, würde mich aber freuen, wenn eine Frau die Nummer eins im Staat ist, nachdem es mich als Kanzlerin gab und inzwischen mehrere Bundestagspräsidentinnen. Das wäre doch wirklich nicht schlecht!

Sie sagten einmal, Sie wären zufrieden, wenn die Menschen über ihre Regierungszeit sagen, es waren gute Jahre. Heute scheint das Urteil über Ihre Regierungszeit gespalten zu sein. Empfinden Sie das als ungerecht?

Nein. Erstens erfahre ich sehr viel Unterstützung, auch bei meinen Veranstaltungen. Zweitens weiß ich, dass ich mit manchen Entscheidungen sehr polarisiert habe. Das ist ja gar keine Frage. Dennoch habe ich die Entscheidungen in der jeweiligen Situation für notwendig gehalten. Manche Urteile ändern sich auch im Lauf der Zeit. Wenn man jetzt zum Beispiel mal die Euro-Krise nimmt: Ich war unglaublich umstritten in Griechenland, in Portugal, in Spanien. Das hat sich über die Jahre auch wieder verändert. Und das ist doch ganz natürlich. Wir leben in einer Demokratie. Ich kann die meisten meiner Entscheidungen, auch wenn man sich wieder in den Kontext damals hineinversetzt, gut rechtfertigen und bin bereit, mit jedem darüber zu diskutieren.

US-Vizepräsident Vance hat infrage gestellt, dass die USA und Europa überhaupt noch die gleichen Werte teilen, die Meinungsfreiheit sei auch in Deutschland gefährdet. Können Sie nachvollziehen, warum er diesen Eindruck hat?

Da stehen sich grundsätzlich unterschiedliche Konzepte gegenüber. Was Vizepräsident Vance vertritt, ist, dass es keinerlei Regulierung von sozialen Medien geben darf und jede dieser Regulierungen im Grunde eine Beschränkung der Meinungsfreiheit ist. Wenn es aber – anders als zum Beispiel im Presserecht – in der Welt der sozialen Medien keine Verantwortlichkeit gibt, dann ist Tür und Tor geöffnet für übelste Propaganda und Beleidigungen. Das ist eine Form von Meinungsfreiheit, die ich ablehne. Nach dem Motto: Der Stärkere und die aggressivste Meldung setzen sich durch. Ich sehe Plattformen nicht als solche kritisch. Sie haben natürlich den Menschen auch viele Kontaktmöglichkeiten eröffnet. Ich sage nur, dass es in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung keinen regulationsfreien Raum geben kann. Deshalb unterstütze ich auch die EU-Verordnungen über die digitalen Dienste und Märkte.

Haben Sie ein gutes Gefühl, wenn Sie auf die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz blicken?

Das ist eine große Herausforderung, bei der wieder das stattfinden muss, was wir ja bei jeder neuen Technologie lernen mussten, dass wir auch hier Regulierungen brauchen, Leitplanken brauchen, Klarheit, Transparenz brauchen. Wo ist die künstliche Intelligenz im Einsatz? Wo ist das eine menschliche Leistung? Das wird uns noch sehr viel Kopfzerbrechen bereiten und sehr schwierig werden. Aber die Menschheit ist mit all ihren neuen Entwicklungen bis jetzt klargekommen. Doch ohne Regulierung wird das nicht gehen. Und das ist ein weiterer Punkt, bei dem die amerikanische Administration jegliche Regulierungen auch gerade infrage stellt oder aussetzt. Das sehe ich anders.

Wenn Diversität oder Gleichheitsfragen in den Augen der Menschen überbetont werden, dann wird das Pendel immer mal wieder zurückschlagen.

Rechte Parteien und Nationalismus sind weltweit wieder auf dem Vormarsch. Haben die westlichen Demokratien es im vergangenen Jahrzehnt übertrieben mit Diversität, Zuwanderung, Transformation – und schlägt nun also gerade das Pendel zurück?

Ich habe immer das Credo von Maß und Mitte vertreten. Wenn Diversität oder Gleichheitsfragen in den Augen der Menschen überbetont werden, dann wird das Pendel immer mal wieder zurückschlagen. Das ist aber aus meiner Sicht keinerlei Rechtfertigung dafür, in noch schlimmerer Weise geistige Freiheiten zu beschneiden oder freie Lehre und Universitäten. Das muss immer wieder in eine maßvolle Richtung geführt werden. Wir müssen eine Diskussionskultur erhalten, in der jeder zu Wort kommen kann und nicht niedergebrüllt wird.

Eines der wenigen Dinge, die Sie ausdrücklich bedauern, ist, dass Sie nicht mehr für den Klimaschutz getan haben. Lag es daran, dass Sie schon damals spürten, dass man mit dem Thema Schiffbruch erleiden kann, wie es Robert Habeck mit dem Heizungsgesetz passiert ist?

Erstmal muss man sagen, es gibt kein Heizungsgesetz, es gibt nur ein Gebäude-Energie-Gesetz. Dieses Gesetz ist schon während der großen Koalition in meiner letzten Amtsperiode ausgearbeitet worden. Uns war allerdings damals schon die Brisanz dessen sehr bewusst, was es bedeuten würde, wenn gerade alte Menschen den Eindruck bekommen, man wolle sie in ihren Häusern zum Tausch ihrer Heizung binnen kürzester Zeit zwingen. Bei diesem Thema, das natürlich Sprengkraft hat, ist es wie bei allen Fragen in einer Demokratie: Ich brauche Mehrheiten für meine Entscheidungen. Jetzt aber umgekehrt gar nichts mehr zu machen, wäre auch keine Lösung. Man muss vielmehr kontinuierlich etwas für die Minderung klimaschädlicher Gase tun, damit man später nicht in eine Situation kommt, in der man zu viel auf einmal tun muss. Dennoch muss ich bedauernd zur Kenntnis nehmen, dass wir in meiner Amtszeit unter dem geblieben sind, was in der Sache nach dem Vorsorgeprinzip notwendig gewesen wäre.

Ich bin der Überzeugung, dass wir unser Gesamtziel, in Europa 2050 klimaneutral zu sein, erreichen müssen, um wenigstens auf europäischer Seite einen Beitrag dazu zu leisten, dass der Klimawandel nicht noch schlimmere Auswirkungen hat.

Sie sind Mitarchitektin des europäischen Emissionshandels, der in anderthalb Jahren Tanken und Heizen deutlich verteuern wird. Kann man angesichts der Kritik aus Osteuropa und auch hier in Deutschland an diesen Plänen festhalten?

Ich fände es gut, wenn man an diesen Plänen festhält. Ich bin der Überzeugung, dass wir unser Gesamtziel, in Europa 2050 klimaneutral zu sein, erreichen müssen, um wenigstens auf europäischer Seite einen Beitrag dazu zu leisten, dass der Klimawandel nicht noch schlimmere Auswirkungen hat. Wir alle sehen ja, dass sich heute schon unsere Lebensbedingungen verändern. Ich halte den Emissionshandel für den besten Weg, weil sich damit die Kreativität der Leute, der Erfinder, der Entwickler am besten entfalten kann.

Es könnte auch das nächste Konjunkturprogramm für die AfD werden...

Nicht, wenn man den Menschen glaubwürdig das Signal gibt, dass sie unter dem Strich weniger zahlen müssen, wenn sie sich für eine bestimmte Technologie entscheiden. Es wird nicht einfach alles teurer, wenn man sich richtig entscheidet, dann kann man auch auf billigere Art und Weise heizen und tanken. Ich persönlich glaube, dass das Preissignal dem ordnungsrechtlichen Signal überlegen ist. Von allein, wenn gar nichts gemacht wird, werden wir nicht klimaneutral. Dann müsste man auch ganz offen sagen, dass man das Ziel nicht erreichen will. Allerdings hat es bis jetzt keiner geschafft, eine vernünftige soziale Kompensation wie das Klimageld einzuführen, was für die Akzeptanz zwingend wäre. Und jetzt ist das Thema in einer erstaunlichen Weise in den Hintergrund getreten.

Kurz vor dem Ende Ihrer Amtszeit blickten Sie, wie es oft beschrieben wurde, sehr pessimistisch in die Zukunft. Was war es, was Sie damals so beunruhigte?

Die optimistischste Zeit war die nach dem Ende des Kalten Krieges, Anfang der 90er-Jahre, als man den Eindruck hatte, hier hat die Freiheit gesiegt und jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es auf der ganzen Welt so passiert. Und dann gab es sehr schnell schon durch die Jugoslawien-Kriege erste Einbrüche. Das Verhältnis zu Russland hat sich nicht so entwickelt, wie man das gehofft hatte. Ein tiefer Einschnitt war die Weltfinanzkrise, in der viele Länder, die keine marktwirtschaftliche Ordnung kannten, sahen, dass ausgehend von den USA ein marktwirtschaftliches System so versagen kann, dass zum Schluss der Staat mit aller Kraft eintreten muss, um nicht die gesamte Weltwirtschaft kollabieren zu lassen. Es wird oft unterschätzt, wie das den Blick der Schwellenländer und Entwicklungsländer auf die Fähigkeiten marktwirtschaftlicher Systeme verändert hat. Damals haben sich die BRICS-Staaten gebildet und versucht, ihre eigene Ordnung zu etablieren. Das einfache Ja zu multilateraler Zusammenarbeit und die Hoffnung, dass Globalisierung und Gerechtigkeit überall entstehen, gab es nicht mehr. Corona war dann ein weiterer schwerer Einbruch, als auch persönliche Kontakte unter Politikern nicht mehr möglich waren über eine lange Zeit. Das war nicht mehr die Welt von 1990 mit der großen Hoffnung, es würde sich alles zum Guten wenden.

Auch das Völkerrecht taugt immer schlechter als Argument, wenn sich niemand mehr daran hält, auch nicht Israel. Haben Sie diese Entwicklung kommen sehen?

Ich stimme der in Ihrer Frage insinuierten Mitteilung, dass Israel sich nicht an Völkerrecht hält, nicht so pauschal zu. Wenn die Existenz eines Landes von der Hamas oder vom Iran infrage gestellt wird, ist das ja völkerrechtlich nicht so ganz einfach zu beantworten. Wenn die einen erklären dürfen, sie wollen den Staat Israel auslöschen, muss der Staat Israel sich dagegen wehren können. Evident völkerrechtswidrig ist der Überfall Russlands auf die Ukraine. Die Ukraine hat Russland nie bedroht und wurde trotzdem angegriffen. Aber insgesamt ist die gesamte multilaterale Struktur unter Druck. Das ist vollkommen richtig.

Es kann immer noch schlechter werden. Deshalb sollte man das, was man hat, pfleglich behandeln. Das war immer meine Devise.

Driftet die Welt also auseinander?

Die Frage ist, auf welche Seite stellt man sich in diesem Prozess? Ich würde immer sagen, selbst das Unvollkommene, das man hat, muss man pflegen und hegen und nicht noch zertrümmern, bevor man nicht etwas Neues und Besseres hat. So ist es auch mit den UN-Organisationen, mit den übrigen internationalen Organisationen, mit den internationalen Treffen. So ist es mit der deutsch-amerikanischen oder europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit. Ich würde nie von unserer Seite aus als Erste sagen, weil uns das jetzt nicht gefällt, wie es gerade in Amerika ist, wollen wir keine deutsch-amerikanische Zusammenarbeit mehr. Es kann immer noch schlechter werden. Deshalb sollte man das, was man hat, pfleglich behandeln. Das war immer meine Devise.

Gilt das auch für die europäische Migrationspolitik, die viele als dysfunktional empfinden?

Wenn wir die Vorzüge von Schengen dauerhaft erhalten wollen, also der Freizügigkeit der Bewegung innerhalb Europas, dann müssen wir die gesamte Migrationspolitik, legale wie illegale Migration, europäisch denken. Deshalb ist das Gemeinsame Europäische Asylsystem ein wichtiger Schritt. Das ist natürlich erst mal komplizierter, als wenn man die Migrationspolitik nur von deutscher Sicht denkt. Da ist es schon kompliziert genug, aber mit 27 EU-Mitgliedstaaten wird es noch komplizierter. Und trotzdem lohnt es die Mühe, nach meiner festen Überzeugung. Dafür muss weiter gearbeitet und auch weiter verhandelt werden.

Schauen Sie, 2015 liegt in diesem Jahr zehn Jahre zurück. Wir hatten damals eine sehr außergewöhnliche Situation.

Muss man die Migrationspolitik nicht radikal ändern, wenn man merkt, dass große Teile der Bevölkerung sie nicht mehr wollen?

Schauen Sie, 2015 liegt in diesem Jahr zehn Jahre zurück. Wir hatten damals eine sehr außergewöhnliche Situation. Ich habe ja nicht tatenlos zugesehen, sondern Lösungen gefunden. Eine dieser Lösungen, die auch exemplarisch für heute gelten, war das EU-Türkei-Abkommen. Im Ergebnis konnte die Zahl der Flüchtlinge um 95 Prozent verringert werden. Wir haben unterstützt, dass die Flüchtlinge näher an ihrer Heimat bleiben konnten. Es ist ungeregelter Migration außerdem immer vorzuziehen, humanitäre Kontingente vom UNHCR, von einer internationalen Flüchtlingsorganisation, aufzunehmen. Da wählen wir wirklich die Menschen aus, die am meisten Hilfe brauchen.

Aber weil genau das nicht geschah, hat ja Ihre damalige Politik viele so verstört...

2015 hatten wir eine außerordentliche humanitäre Notsituation zu bewältigen. Es kamen viele Menschen aus Syrien und sicher auch Menschen aus Familien anderer Länder, bei denen von sechs Kindern für eines der Schleuser bezahlt werden konnte und es dann losgeschickt wurde. Aber trotzdem waren es Menschen, von denen niemand leichtfertig seine Heimat verließ und die schon zum Teil schwierige Schicksale hatten. Damit mussten wir umgehen. Den Lösungsweg habe ich gezeigt: mehr Schutz an den Außengrenzen und EU-Abkommen wie das mit der Türkei. Wir dürfen unseren Blick nicht zu sehr verengen. Wir denken ja, was in Afrika passiert, geht uns eigentlich nichts an. Es geht uns etwas an. Wir müssen in einer globalen Welt einfach verstehen, dass wir ein elementares, eigenes Interesse daran haben, dass es den Menschen in möglichst vielen Ländern auf der Welt gut geht. Es dient unserer Sicherheit und unserer Stärke, wenn wir uns um die Sicherheit anderer kümmern.

Sie haben kürzlich die aktuellen Zurückweisungen an den Grenzen kritisiert und darauf verwiesen, dass Sie Angst haben, dass Europa daran zerbrechen könnte. Aber ist es nicht auch umgekehrt so, dass Europa daran zerbrechen könnte, wenn es nicht gelingt, Migration zu steuern und zu begrenzen, weil dann Europa selbst keine Akzeptanz mehr findet in der Bevölkerung?

Die Frage lautet doch eigentlich, ob wir glauben, dass die Akzeptanz für Europa größer wird, wenn ein Land wie Deutschland vorrangig an den deutschen Binnengrenzen handelt oder ob man sich der Mühe unterzieht, in Europa immer wieder den Versuch zu machen, gemeinsam das Problem zu lösen, auch wenn es noch so schwierig ist. Auf jeden Fall glaube ich, dass permanente, strikte Grenzkontrollen zwischen den Ländern eine Gefährdung der Freizügigkeit und damit des Zusammenhalts in Europa sind. Und wir sehen ja, dass dieser Zusammenhalt wichtiger denn je ist in der Welt, dass wir allein nicht weit kommen in einer Welt mit acht Milliarden Menschen und vielen relativ robust auftretenden Ländern. Wenn dieses Europa eine Chance haben soll, souverän und resilient sein soll, dann muss es seine Probleme gemeinsam lösen. Dann kann ich nicht sagen, die Migration löse ich national und den Rest mache ich gemeinsam europäisch. Das wird nicht klappen.

Wurde der Vertrauensverlust in die Politik auch durch Ihre Corona-Maßnahmen heraufbeschworen?

Heraufbeschworen? Das würde ich nicht sagen. Corona war eine unglaubliche Herausforderung. Ich hätte mir 1990 nicht träumen lassen, dass ich eines Tages diejenige Bundeskanzlerin sein würde, die grundlegende demokratische Freiheiten einschränken muss. Aber ich habe mich per Amtseid verpflichtet gefühlt, das zu tun, um Menschenleben retten zu können. Um den Preis, dass ich vielen Bürgern auch Freiheiten nehmen musste, die sie für selbstverständlich erachten. Aber weder habe ich das Coronavirus selbst verursacht noch habe ich es importiert, sondern das war eine Pandemie, von der die ganze Welt erfasst wurde. Und man muss ein bisschen aufpassen bei der Beurteilung, dass nicht nach einer Weile die Überbringer der schlechten Botschaft die Schuldigen sind, als wäre Corona glimpflich an uns vorübergegangen, wenn nicht Politiker vermeintlich falsch damit umgegangen wären.

Wenn kein Impfstoff da gewesen wäre, dann hätten wir noch viele Jahre zu kämpfen gehabt.

Es stellt niemand infrage, dass Sie in guter Absicht handelten, aber andere Länder haben sehr viel liberaler, mit weniger Einschränkungen reagiert, und die Bilanz dort fällt nicht grundlegend anders aus...

Wir haben uns natürlich immer angeguckt, was andere Länder machen. Die Gegebenheiten sind zum Teil sehr unterschiedlich gewesen. Auf jeden Fall kann ich heute noch sagen, dass unsere Krankenhäuser an vielen Stellen am Limit dessen waren, was sie leisten konnten. Schauen Sie, wir hoffen ja nicht, dass wir wieder so eine Pandemie in absehbarer Zukunft bekommen, aber dass wir uns auseinandersetzen mit dem, was war notwendig, was war nicht notwendig, das gehört dazu. Im Großen und Ganzen würde ich trotzdem sagen, dass wir relativ gut durch die Pandemie gekommen sind. Und was ich noch dazu sagen möchte, ist, dass völlig unterschätzt wird, was für ein Glück wir hatten, dass nach einem Jahr ein Impfstoff da war. Wenn kein Impfstoff da gewesen wäre, dann hätten wir noch viele Jahre zu kämpfen gehabt.

Lag das nicht mindestens so sehr an der weniger aggressiven Omikron-Variante?

Die Impfung hat uns entscheidend geholfen.

Kennen Sie eigentlich persönlich die Details, die in den RKI-Protokollen dann später veröffentlicht worden sind und die auch eine sehr kontroverse Diskussion abbilden in der Behörde? Ob die Inzidenz von 50 ein belastbarer Grenzwert war, ob die Pandemie der Ungeimpften ein belastbarer Terminus war...

Ich habe mich nicht mit jedem Detail beschäftigt. Wir haben uns ja nicht 20 Jahre auf diese eine Pandemie vorbereitet und diskutiert, ob 50 oder 70 pro 100.000 Einwohner die richtige Inzidenz ist, aber die Berechnungen erschienen mir plausibel. Insgesamt haben wir in der Pandemie lernen müssen, was wir richtig machen und was wir falsch machen. Für mich war eigentlich nur eine einzige Zahl wichtig, und zwar wie viele Menschen auf den Intensivstationen liegen. Im Rückblick würde ich sagen, am meisten haben vielleicht die Kinder und Jugendlichen gelitten, auch Menschen mit Verwandten, die in Krankenhäusern gestorben sind und die sie nicht besuchen durften, haben sehr gelitten, auch die Einsamkeit in den Seniorenheimen war furchtbar. Natürlich war es eine harte Zeit, aber zu glauben, eine Pandemie hätte durch eine wie auch immer tolle Regierung so ausgehen können, dass keiner kaum etwas gemerkt hätte, ist eine vollkommene Illusion.