Bis die Tränen kamenEin Kölner Missbrauchsopfer schildert seine Erlebnisse

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Dr. Werner Becker wurde als Jugendlicher in einem katholischem Internat missbraucht.

Noch als er vor dem Büro wartete, wäre er am liebsten wieder gegangen. „Ich wollte nur weg, einfach abhauen.“ Als er dann hereingebeten wurde, packte ihn eine unbändige Wut. „Am liebsten hätte ich alles zerschlagen.“ Werner Becker unterdrückte seinen Fluchtreflex, bändigte seinen Hass – und begann zu reden.

Erstmals seit rund 50 Jahren schenkte ihm ein ranghoher Geistlicher des Erzbistums Köln Gehör, hörte sich an, was ihm als 17-Jährigen am Collegium Josephinum in Bad Münstereifel angetan wurde. „Schon nach wenigen Minuten hatte ich das Gefühl, er nimmt das ernst, sein Mitgefühl ist nicht gespielt. Ich habe mich geöffnet, soweit, dass ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.“

Heutiger Bischof von Hamburg

Der Mann, der Werner Becker gegenüber saß, war der damalige Generalvikar, Stefan Heße, heutiger Bischof von Hamburg. Heße ist kürzlich im Zuge einer nicht veröffentlichten Untersuchung der Missbrauchsfälle im Erzbistum Köln durch eine Münchner Kanzlei (siehe Kasten) in die Kritik geraten.

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Ihm wird vorgeworfen, als Generalvikar in Köln Missbrauchsfälle unter den Teppich gekehrt zu haben. Der Bischof bestreitet das. Dass ausgerechnet Heße ins Rampenlicht der Missbrauchsskandale des Erzbistums Köln rückt, ist für Becker schwer erträglich. Er schreibt einen Brief an die Rundschau: „Dr. Heße hat es gewagt, nahezu im Alleingang meiner Sache nachzugehen. Ich persönlich bin ihm aus tiefsten Herzen dankbar, dass er Nestbeschmutzer demaskiert hat – und nicht nur in meinem Fall.“

Priester waren höchste Instanz

„Ich bin in einem katholischen Haushalt groß geworden. Priester waren die höchste Instanz“, berichtet Becker, der heute eine große Zahnarzt- und Heilpraktiker-Praxis in Köln betreibt. Undenkbar, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, was ihm Geistliche am Collegium Josephinum 1959 antaten. „Ich hätte mir Ohrfeigen eingefangen.“

Eher hätten die Eltern geglaubt, ihr eigener Sohn ist ein Lügner, als zu akzeptieren, dass unter anderem der Leiter des Internats keine Gelegenheit ausließ, sich an den Schülern zu vergreifen. „Beim Waschen ergriff er uns, drückte sich an uns.“ Nachts sei er in den Schlafraum gekommen, ließ seine Hände unter die Bettdecken gleiten. Damit ihre Taten nicht an die Öffentlichkeit gerieten, sorgten die Täter für eine Aura der Gewalt und Angst – und beschädigten so die Seelen ihrer Schützlinge.

Über 40 Jahre geschwiegen

„Ich war mein ganzes Leben lang beziehungsunfähig, konnte keine Nähe aufbauen“, sagt Becker. Über 40 Jahre lang schwieg er, hatte das Erlebte tief in sich vergraben, verdrängte es.Dann passierte das Unfassbare. Werner Becker lag im Krankenhaus mit einem Oberschenkelhalsbruch. Er bat darum, einen Priester zu sprechen.

Studie zu Missbrauchsfällen

Schonungslos werde die Untersuchung der Missbrauchsfälle durch eine unabhängige Münchner Anwaltskanzlei sein, so versprach es Kardinal Woelki 2018  bei Auftragsvergabe. Im Gespräch mit der Rundschau versicherte im Februar 2020 Generalvikar Markus Hofmann, bei der Nennung  von Tätern und Vertuschern werde es kein Tabu geben und kündigte die Veröffentlichung für  März 2020 an.

Erst verschoben und nun eingestampft: Das Bistum wird die Studie nicht mehr veröffentlichen. Es  sei nicht gelungen, sie rechtssicher zu gestalten, so der Vorwurf.  Beispielsweise  im Falle des ehemaligen Kardinal Meisners hätten die Münchner Anwälte sich nicht auf juristische Bewertungen beschränkt sondern  mit  Beschuldigungen gearbeitet.

Details der Studie sickerten dennoch durch, unter anderem der Vorwurf, der ehemalige Kölner  Generalvikar und heutige Hamburger Bischof Stefan Heße habe  Informationen  zu Missbrauchsfällen nicht weitergeleitet.  Heße bestreitet das. Er sagt aber auch, alle Missbrauchsfälle seien über den Tisch Meisners gegangen und Unterlagen dazu nach zehn Jahren vernichtet worden. Privatsekretär Meisners war der heutige Kardinal Woelki. Die Vernichtung der Akten  habe er gestoppt, sagt Heße. Der ehemalige Personalchef des Bistums, Prälat Robert Kümpel, berichtete in einem Interview mit dem Domradio, die Akten seien vor ihrer Vernichtung in einem „Giftschrank“ gelagert worden. Konsequenzen für die Täter habe es kaum gegeben.

Einen Beichtbus stellten Mitglieder der katholischen Frauenbewegung Maria 2.0  am Freitag vor dem Dom auf. Sie protestierten damit gegen die Nichtveröffentlichung des Gutachtens. „Es geht uns nicht um eine juristische Studie, sondern endlich um ein Schuldbekenntnis“, sagt   Mitinitiatorin Bernadette  Rüggeberg. Seit Jahren würden die Aufklärung verzögert und Täter nicht benannt und belangt. „Das ist für uns unerträglich. Wir fordern, dass die Kirche wieder menschlich wird“, so Rüggeberg. Sie fragt: „Wie kann das Gutachten der Münchner Kanzlei für das Bistum Köln nicht genügen, während für das Bistum Aachen ein Gutachten derselben Kanzlei einwandfrei ist?“  (ngo)

„Ich hatte in keiner Weise vor, über meine Missbrauchserfahrung zu sprechen, ich suchte einfach nur ein Seelsorgegespräch.“ Doch auf einmal kam alles hoch. „Und ich merkte, wie mein Gegenüber immer ruhiger wurde, immer mehr in sich versank.“ Es stellte sich heraus, auch der Krankenhauspfarrer war Schüler am Collegium Josephinum in Bad Münstereifel gewesen. Auch er wurde – acht Jahre später als Becker – Opfer der Übergriffe. Für beide stand fortan fest, das Schweigen muss ein Ende haben. Doch sie fanden kein Gehör.

Alle Vorstöße abgewehrt

Alle Vorstöße des Krankenhausgeistlichen wurde im Bistum abgewehrt. „Das sind alles Lügen, das ist alles Quatsch“, so die Reaktionen aus der Bistumsleitung unter dem damaligen Erzbischof Joachim Kardinal Meisner, die der Krankenhauspfarrer erfuhr und an Becker weiter gab. Bis dann 2012 Stefan Heße unter Meisner Generalvikar wurde, und nach dessen Rücktritt im Februar 2014 bis zum Amtsantritt von Kardinal Woelki im September 2014 als Diözesanadministrator die Geschäfte des Bistums leitete.

Heße bat den Priester und Werner Becker zum Gespräch. „Über zwei Stunden haben wir miteinander gesprochen, Heße hat sich seitenweise Notizen gemacht“, erinnert sich Becker. Und das sollte nicht folgenlos bleiben. In einem wissenschaftlichen Projekt wurden Missbrauch und Gewalt am Collegium Josephinum in Bad Münstereifel aufgearbeitet. 2017 wurde ein Endbericht veröffentlicht. „Die Namen der Täter wurden nicht genannt. Kein einziger von ihnen wurde bis heute belangt“, sagt Becker bitter. Aber immerhin, es wurde ein systematischer Missbrauch aufgedeckt, betrieben über Jahrzehnte.

Zweifel an Aufklärungswille des Bistums

Becker rechnet diesen Teilerfolg Heße an. Niemandem sonst. Er zweifelt immer noch grundlegend an dem Aufklärungswillen des Bistums. „Als Kardinal Woelki vor rund zwei Jahren ankündigte, es werde eine Untersuchung aller bekannten Fälle durch eine unabhängige Münchner Kanzlei geben, habe ich gleich gedacht, diese Studie wird nie veröffentlicht.“ Nun sieht er sich bestätigt, nachdem das Bistum bekannt gab, die Zusammenarbeit mit der Kanzlei sei beendet und die Studie werde durch eine Kölner Kanzlei neu erstellt.

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Das, was ihm angetan wurde, die Taten und ihre Vertuschung, hat zwar Beckers Glauben an Gott nicht zerstört, aber den an die Institution Kirche. „Diese Ohnmacht, diese Wut“, die er der Amtskirche gegenüber empfindet, könnte, wenn überhaupt, nur gelindert werden, „würden endlich Ross und Reiter schonungslos beim Namen genannt und zur Rechenschaft gezogen“.

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