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Interview

EU-Außenbeauftragte Kallas
„Die Aktionen Israels führen dazu, dass die Regierung Freunde verliert“

9 min
„Ich bin sehr besorgt – die Lage im Nahen Osten ist gefährlich“, sagt Kaja Kallas im Interview mit unserer Redaktion.

„Ich bin sehr besorgt – die Lage im Nahen Osten ist gefährlich“, sagt Kaja Kallas im Interview mit unserer Redaktion. 

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas verteidigt die europäische Linie gegenüber Russland und weist Vorwürfe doppelter Standards in Bezug auf Israels Vorgehen im Gazastreifen zurück.

Seit Ende 2024 ist die Estin Kaja Kallas (47) EU-Außenbeauftragte und Vizepräsidentin in der EU-Kommission. Im Interview mit Katrin Pribyl spricht die ehemalige Ministerpräsidentin Estlands über die Maßnahmen gegen Russland, die Gefahr, die von Moskau ausgeht, wie sie ihre Rolle als Europas Chefdiplomatin interpretiert und den schwierigen Umgang der Europäer mit Israel.

In der Nacht zu Freitag hat Israel einen groß angelegten Luftangriff auf Irans Militäreinrichtungen und Nuklearanlagen gestartet. Wie bewerten Sie die Situation?

Ich bin sehr besorgt. Die Lage im Nahen Osten ist gefährlich und es braucht nun die Zurückhaltung von allen Parteien, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Ich bin bereit, alle diplomatischen Bemühungen zu unterstützen. Diplomatie bleibt der beste Weg nach vorn.

Die Lage in der Ukraine ist ebenfalls dramatisch. Dem Land scheint die Zeit davonzulaufen, während die Europäer hier sitzen und über die Erhöhung der Militärausgaben und das 18. Sanktionspaket diskutieren. Verliert Europa diesen Krieg?

Die Ukraine behauptet sich auf dem Schlachtfeld oder anders ausgedrückt: Die Russen stehen nicht gut da. Und jeder Schritt, den sie machen, ist mit hohen Verlusten verbunden. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wir hätten all diese starken Maßnahmen am Anfang ergriffen. Ich habe immer gesagt: Wenn wir alle unsere Anstrengungen bündeln, dann können wir diesen Krieg schneller beenden. Aber die Sanktionen wirken. Durch das 17. Paket, das wir gegen die Schattenflotte geschnürt haben, ist der Ölexport über die Ostsee und das Schwarze Meer innerhalb einer Woche um 30 Prozent gesunken. Das bedeutet, dass die russische Armee eine Menge Geld verloren hat. Und Russlands nationaler Fonds ist allein im Monat Mai von 42 Billionen Dollar auf 36 Billionen gefallen.

Trotzdem führt Moskau diesen Krieg mit aller Härte fort. Warum sollte das kürzlich vorgestellte 18. Sanktionspaket daran etwas ändern?

Jede Sanktion schwächt Russlands Fähigkeit, diesen Krieg zu führen. Wir kommen an einen Punkt, an dem die Sanktionen die Lieferketten treffen. Die jüngsten Strafmaßnahmen zielen auf den Energiesektor, die Militärindustrie und die Banken ab, wo es jetzt beispielsweise um ein komplettes Transaktionsverbot geht. Die ganze Idee ist, Russland die Mittel zur Finanzierung des Krieges zu entziehen. Und sie haben zu kämpfen.

In Deutschland ist erneut eine Debatte über den Umgang mit Moskau entbrannt. Prominente Sozialdemokraten drängen auf eine Kehrtwende. Sie fordern unter anderem Gespräche mit dem Kreml. Wie bewerten Sie solche Diskussionen?

Ich finde das überraschend. Insbesondere, nachdem Russland sehr deutlich gemacht hat, dass es wirklich keinen Frieden will, sondern nur Zerstörung. Wie kann also jemand glauben, dass es möglich ist, mit Wladimir Putin irgendetwas zu vereinbaren, wenn man sieht, was in der Ukraine passiert? Es braucht mindestens zwei für einen Frieden, aber es braucht nur einen, um Krieg zu führen. Die Ukraine hat bereits vor drei Monaten einem bedingungslosen Waffenstillstand zugestimmt. Russland intensiviert hingegen seine Angriffe auf die Zivilbevölkerung.

Nato-Generalsekretär Mark Rutte warnte kürzlich, dass Russland in fünf Jahren die Verteidigungsfähigkeit der Nato in den baltischen Staaten testen will. Wird die Gefahr durch Russland weiterhin unterschätzt?

Hier in Brüssel spürt man diese Bedrohung nicht so stark. Aber wir müssen solche Warnungen sehr ernst nehmen. Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern war zum Beispiel das Land mit den meisten Cyberangriffen pro Kopf, aber selbst in absoluten Zahlen das Land, das weltweit am drittstärksten betroffen war. Es trifft jedoch alle europäischen Mitgliedstaaten, auch wenn die Regierungen vielleicht nicht viel darüber reden. Und wir unternehmen all diese Anstrengungen zur Stärkung unserer Sicherheit ja, um Russland davon abzuhalten, die Nato anzugreifen. Unsere erste Verteidigungslinie ist jedoch die Ukraine. Sie hält die Stellung, und wir müssen nur die Mittel bereitstellen, um ihr zu helfen.

Wie kann die EU als Institution denn eine stärkere Rolle in der Sicherheitspolitik spielen, wenn die USA sich in der Nato und in Europa zurücknehmen?

Das Engagement der USA ist weiterhin da, unsere transatlantischen Beziehungen sind immer noch stark. Als europäische Institutionen haben wir trotzdem unterschiedliche Verteidigungsinitiativen vorgeschlagen, die die Mitgliedstaaten dazu bringen sollen, enger zusammenzuarbeiten. Ein stärkeres Europa bedeutet auch eine stärkere Nato und einen verlässlicheren Partner für unsere Verbündeten.

Nach dem Besuch von Friedrich Merz in Washington herrschte in Deutschland Erleichterung, dass das Treffen ohne Eskalation und Demütigungen verlaufen ist. Muss man heute über so etwas schon froh sein und wie verlässlich sind solche Mini-Erfolge? Sie haben etwa eine andere Erfahrung gemacht, als US-Außenminister Marco Rubio Sie bei ihrem Besuch in Washington versetzt hat.

Da muss man unterscheiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die US-Regierung zwar sehr deutlich gemacht hat, dass sie die EU nicht mag, die europäischen Länder aber schon. Meine Kontakte zu den Amerikanern wie Außenminister Rubio am Rande von Veranstaltungen waren sehr gut. Was wir uns vor Augen halten müssen, ist, dass unsere Gegner oder unsere Verbündeten die EU nicht mögen, weil wir stark und eine ebenbürtige Macht sind, wenn wir zusammenhalten.

Trotzdem strauchelt die EU im Umgang mit einem unberechenbaren US-Präsidenten wie Donald Trump. Was kann sie besser machen?

Wir dürfen nicht in die Falle tappen und einknicken im Sinne von: Amerika mag die Europäische Union nicht, deshalb verhandeln wir eben bilateral. Natürlich hat jeder Mitgliedstaat eine Beziehung zu Washington. Aber in der Handelspolitik haben wir beispielsweise vereinbart, dass wir gemeinsam vorgehen und nicht zulassen, dass uns jemand entzweit.

Wie interpretieren Sie Ihre Rolle als Hohe Vertreterin der EU? Haben Sie unterschätzt, wie Ihr direkter Stil, gerade in Bezug auf Russland, aufgenommen werden könnte?

Gerade wegen meines Stils wurde ich für dieses Amt ausgewählt. Die Staats- und Regierungschefs haben mich dreieinhalb Jahre lang im Europäischen Rat arbeiten gesehen. Wir leben in sehr turbulenten Zeiten und müssen schnell handeln. Ich habe diese exekutive Denkweise, und aktuell gibt es ein Gelegenheitsfenster, um unsere geopolitische Macht auszubauen und als EU relevant zu sein. Wir müssen es gut nutzen.

Ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter wurden während der Okkupation Estlands durch die Sowjetunion 1949 nach Sibirien deportiert. Inwieweit beeinflusst der familiäre Hintergrund Ihr politisches Bewusstsein?

Ich würde es anders formulieren. Jede estnische Familie kann eine ähnliche Geschichte erzählen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Was mich in meinem politischen Leben wirklich beeinflusst, ist die Art und Weise, wie wir unsere Unabhängigkeit zurückerhalten haben. Wer sein ganzes Leben lang in einer friedlichen Umgebung gelebt hat, weiß oft gar nicht, was Freiheit bedeutet. Ich habe die Besatzung erlebt. Erst als ich ein Teenager war, bekamen wir unsere Freiheit, die Demokratie und unser Land zurück. Das ist so wertvoll. Ich betrachte das nicht als selbstverständlich. Es ist etwas, für das man kämpfen muss. Wir sind es unseren Großeltern schuldig, dass wir das nicht noch einmal erleiden müssen.

Ist das der Grund dafür, warum Sie auch immer wieder undiplomatisch vorgehen, wenn Sie es für nötig erachten?

Diplomatie ist vielschichtig. Die Europäische Union beruht auf Werten und deshalb ist es wichtig, dass wir an ihnen festhalten. Ich bin bereit, für unsere Werte zu kämpfen. Und wenn man mir sagt, dass ich die Einzige bin, die Diktatoren unangenehme, schwierige Fragen stellt, die sonst niemand stellt, dann macht mich das stolz. Ich denke, das verschafft mir auch Respekt. Ich habe keine Angst vor solchen Konfrontationen.

Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um Russland geht, und üben viel Druck auf die Mitgliedstaaten aus. Beim Thema Israel und Gaza sind Sie dagegen zurückhaltender.

Dieser Krieg in Israel hat mit den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 begonnen, bei denen Israel brutal angegriffen wurde. Es hat das Recht, sich gegen die Hamas zu verteidigen. Aber ich habe auch sehr deutlich gemacht, dass die israelische Regierung die Grenze zur Selbstverteidigung überschritten hat. Wenn es um die Ukraine und Russland geht, haben wir im Kreis der 27 Länder eine starke gemeinsame Position. Da bin ich Mainstream. Was Israel und den Gazastreifen betrifft, unterscheiden sich im Rat die Ansichten sehr. Jeder Mitgliedstaat bringt seine eigene Geschichte mit.

Spanien oder Irland stehen eher im pro-palästinensischen Lager, Deutschland oder Ungarn auf der Seite Israels. Wären Sanktionen gegen die israelische Regierung überhaupt je vorstellbar?

Sanktionen können wir verhängen, wenn sich alle 27 Länder dafür aussprechen. Schon die Diskussion über die Überprüfung von Artikel 2 des Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel gestaltete sich als ziemlich schwierig. Zwei Drittel der Länder waren dafür, ein Drittel dagegen.

Einige Länder sehen einen Verstoß gegen Artikel 2 des Vertrags, der besagt, dass das Verhältnis zwischen den Vertragsparteien auf der Achtung der Menschenrechte und demokratischen Grundsätzen beruht. Deshalb läuft unter Ihrer Federführung derzeit eine Überprüfung des Abkommens.

Ja, und wenn die zu dem Ergebnis kommt, dass ein Verstoß vorliegt, stellt sich als Nächstes die Frage: Was machen wir dann? Natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten. Aber am Ende läuft alles auf die Frage hinaus: Bekommen wir im Kreis der Mitgliedstaaten eine Mehrheit?

Das klingt nicht so, als ob Europa in naher Zukunft mit einer Stimme sprechen könnte.

Ich will mich auf die Dinge konzentrieren, bei denen wir uns einig sind, etwa bei der Forderung nach einer Wiederaufnahme von Verhandlungen, nach einer Waffenruhe oder der Freilassung der Geiseln. Wir stimmen überein, dass die Hamas keine Rolle in der künftigen Verwaltung Gazas spielen darf und dass humanitäre Hilfe nicht als Waffe eingesetzt werden darf. Und wir unterstützen alle die Zwei-Staaten-Lösung. Innerhalb dieses Rahmens versuchen wir zu handeln.

Sie meinten kürzlich, mehr Druck auf die israelische Regierung sei notwendig, um die Situation zu verändern. Wird der nicht eher mit konkreten Sanktionen als durch solche politischen Botschaften oder durch einen anderen Ton aufgebaut?

Nicht nur der Ton hat sich verändert, sondern auch die Stimmung auf Ebene der politischen Führung. Zwei Drittel der Länder unterstützten die Überprüfung von Artikel 2. Das kann man zwar als reine Worte abtun, aber es markierte tatsächlich einen massiven Wandel. Die Aktionen Israels führen dazu, dass die Regierung Freunde verliert. Das ist es, was gerade passiert.

In einigen Teilen der Welt wird die Reaktion der EU auf das harte Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen als Heuchelei kritisiert. Wie will die EU als globaler Akteur Einfluss haben, wenn sie nicht mit einer Stimme eine klare Haltung zu diesem Krieg einnimmt?

Ich wehre mich gegen den Vorwurf, dass wir Heuchler seien. Wir sind die größten Unterstützer der Palästinenser – nicht die arabischen Länder oder sonst jemand, sondern wir Europäer. Wir leisten die meiste humanitäre Hilfe. Und wir sind auch diejenigen, die wirklich Druck auf Israel ausüben, damit den Menschen vor Ort geholfen werden kann. Mir wurde in letzter Zeit nicht mehr der Vorwurf der Doppelmoral gemacht, weil alle sehen: Wir versuchen es wirklich.