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Interview

Detlef Seif zur Migrationswende
„Die EU kann nicht 300 Millionen Leute aufnehmen"

9 min
Köln, RSK, Detlef Seif

Seit 2009 vertritt Detlef Seif (CDU) als direkt gewählter Abgeordneter den Wahlkreis Euskirchen/Rhein-Erft-Kreis II im Bundestag.

Die Bundesregierung hat eine Migrationswende versprochen, viele Maßnahmen sind umstritten. Fragen an Detlef Seif (CDU), den Beauftragten der Unionsfraktion für die Umsetzung der europäischen Asyl- und Migrationswende.

Herr Seif, auch mehr als zehn Jahre nach Angela Merkels Wort „Wir schaffen das“ ist der Umgang mit der damaligen Flüchtlingskrise umstritten. Wie stehen Sie dazu?

Damals kamen über 10.000 Menschen am Tag zu uns, unregistriert, ungesteuert. Ich gehörte zu einem Kreis von über 40 Unionsabgeordneten, die die Bundeskanzlerin aufgefordert haben, an den Grenzen Zurückweisungen vornehmen zu lassen. Das ist nicht erfolgt, wir kennen die weitere Geschichte.

Aber wenn wir uns an die katastrophale humanitäre Situation der Flüchtlinge damals in Ungarn erinnern – hätte man da wirklich einfach sagen können: Grenzen dicht?

Angela Merkel hatte meine volle Unterstützung dabei, dass man humanitäre Nothilfe leistet. Aber in der entscheidenden Phase hat sie gesagt, dass das Dublin-System quasi ausgesetzt ist. Dazu kamen weitere Signale, die wirkten, als könne jetzt jeder nach Deutschland kommen: Migranten, die gemeinsam mit der Kanzlerin in die Kamera lächelten und das berühmte Zitat: „Wir schaffen das!“ Zudem erklärte der damalige Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, man rechne im Jahr 2015 mit 800.000 Antragstellern. In Afghanistan wurde das so verbreitet, als gebe es ein Kontingent für 800.000 Afghanen, die einreisen dürften.

Sind Zurückweisungen denn überhaupt wirksam? Diese Diskussion haben wir aktuell wieder.

Die meisten Leute unterschätzen die Wirkung der Kommunikation. 2015 machten sich viele wegen Kommunikationsfehlern auf den Weg. Umgekehrt sind auch die Einführung von Grenzkontrollen und Zurückweisungen an der Grenze ein starkes Signal: Deutschland nimmt es nicht mehr hin, dass einfach jeder kommen kann, auch wenn er schon in einem anderen sicheren Land Aufnahme gefunden hat.

Die Zurückweisungen sind nicht nur ein Signal an die Betroffenen und Schlepper, sondern auch an die EU und ihre Mitgliedstaaten.
Detlef Seif

Die Flüchtlingszahlen gehen schon seit Jahresbeginn zurück, also nicht erst seit dem Beschluss für Zurückweisungen.

Ja, und solche Entwicklungen haben nie eine einzige Ursache. Es gab auf europäischer Ebene Verständigungen mit Drittstaaten wie etwa mit Marokko und Ägypten. Serbien hat vor zwei Jahren die Balkanroute dichtgemacht. Dann die Grenzkontrollen und zuletzt die Zurückweisungen als weiteres Signal. Rechtspopulisten sagen, es seien doch seit Antritt der Regierung Merz nur 692 Asylbewerber zurückgewiesen worden. Stimmt. Aber viel wichtiger ist: Wie viele haben es gar nicht erst versucht! Die Zurückweisungen sind nicht nur ein Signal an die Betroffenen und Schlepper, sondern auch an die EU und ihre Mitgliedstaaten. Wir wollen geordnete Verhältnisse. Wir haben es zum Beispiel hingenommen, dass Italien trotz Dublin-III-Abkommen keine Flüchtlinge zurücknimmt. Niemanden! Wir haben es auch hingenommen, dass 70 Prozent der zu uns kommenden Flüchtlinge in den EU-Staaten, die sie durchreist haben, nicht registriert wurden. Jetzt machen wir das nicht mehr mit.

Wenn andere Staaten sich rechtswidrig verhalten, was ist mit uns? Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Zurückweisungen auch für rechtswidrig gehalten.

Wenn die Berliner Entscheidung richtig wäre, dann bräuchten wir den Artikel 72 im Vertrag über die Arbeitsweise der EU nicht. Aus diesem Artikel leitet zum Beispiel der Konstanzer Jurist Daniel Thym die Möglichkeit von Ausnahmen bei der Anwendung der Dublin-III-Verordnung ab.

Wann, meinen Sie, kann man sich auf diesen Artikel berufen?

Dazu muss es keine Notlage geben, wie ihn Artikel 78 des Vertrags voraussetzt. Bei Artikel 72 geht es um die Verantwortung der Staaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Nur hatte die Bundesregierung die entscheidenden Argumente für die Anwendung dieses Artikels beim Berliner Verwaltungsgericht gar nicht vorgetragen. Sie wird das gegebenenfalls in einem späteren Hauptsacheverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof tun. Ich will das nicht bewerten, aber für mich ist klar, dass öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet sind, wenn Behörden durch die vielen Anträge hoffnungslos überlastet sind. Wenn psychisch Kranke kommen, die nicht angemessen versorgt werden, wenn wir uns um die Menschen nicht kümmern können, dann bedeutet dies eine Gefährdung der inneren Sicherheit. Leute wie die Täter von Solingen und Friedland, hätte man vor den Taten abschieben können. Das hätte beim Verwaltungsgericht Berlin konkret vortragen werden müssen.

Und es ist absurd, wenn eine rechtspopulistische Partei im Bundestag fordert, ausnahmslos alle Reisenden zu kontrollieren und sogar grenzüberschreitende Straßen zurückzubauen. Irrsinn!
Detlef Seif

Ihr Wahlkreis grenzt an Belgien. Da müssen Sie doch an offenen Grenzen interessiert sein.

Natürlich. Und es ist absurd, wenn eine rechtspopulistische Partei im Bundestag fordert, ausnahmslos alle Reisenden zu kontrollieren und sogar grenzüberschreitende Straßen zurückzubauen. Irrsinn! Das geht gegen die europäische Idee. Die aktuellen Kontrollen führen aber nur punktuell zu Schwierigkeiten. Und sie haben einen Zusatznutzen gebracht: Es gab in drei Monaten insgesamt 13.000 Zurückweisungen. Die knapp 700 Zurückweisungen bei Asylantragstellern sind nur ein Teil davon. 3.000 Haftbefehle wurden vollstreckt, hunderte Schlepper festgenommen.

Sie sprachen eben von der Signalwirkung in der EU. In Polen ist die deutsche Entscheidung nicht gut angekommen und hat dem Lager von Ministerpräsident Donald Tusk eher geschadet.

Ich treffe bei Gesprächen mit Politikern anderer EU-Staaten auf viel Verständnis. Und bitte: Frankreich hat immer schon Zurückweisungen vorgenommen, Italien wendet Dublin III gar nicht an, aus Polen sind viele Menschen ohne Registrierung zu uns gekommen. Wir brauchen endlich ein Asylsystem, das funktioniert, und bei dem die geltenden Rechtsvorschriften auch angewendet werden.

EU-Migrationskommissar Magnus Brunner (l.) und Detlef Seif.

Es soll ein neues europäisches Asylsystem geben. Wird das funktionieren?

Die geplanten Verfahren bereits an den Außengrenzen werden eine deutliche Verbesserung bringen. Aber die Reform beseitigt nicht das, was der niederländische Soziologe und Migrationsforscher Ruud Koopmans die Asyl-Lotterie nennt: Historisch wollte man einzelnen verfolgten Menschen helfen, daraus ist ein Instrument zur unkontrollierten Massenzuwanderung geworden. Jeder, der in die EU kommt und Asyl ruft, hat einen Anspruch auf Prüfung und erhält einen faktischen Aufenthalt. Ausgesetzt ist das nur in Gebieten, wo wir auf hybride Kriegführung stoßen, also zurzeit an der russischen und belarussischen Grenze. Und auch abgelehnte Asylbewerber bleiben meist in der EU. Eine Rückführungsoffensive, wie sie Olaf Scholz als Kanzler versprochen hat, ist unrealistisch.

In der politischen Diskussion wird behauptet, dass die Sicherung der EU-Außengrenzen die Migration deutlich verringern wird. Wie sehen Sie das?

Ganz klar: Nein! Durch die angedachte Stärkung von Frontex und den Ausbau auch der physischen Außengrenzsicherung wird zwar die Sicherheit erhöht. Erst recht durch Einführung des europäischen Ein- und Ausreiseregisters (EES) im nächsten Monat. Dies wird aber nichts daran ändern, dass jedem, der an der EU-Außengrenze Asyl beantragt, der Zutritt zu gewähren ist und er ein faktisches Aufenthaltsrecht erhält. Das lässt sich nur durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der europäischen Asylpolitik ändern.

Aber es gibt doch gute Gründe zu fliehen. Die Kriege in vielen Teilen Afrikas zum Beispiel.

Richtig. Und wenn Sie die Schutzvorschriften im Europarecht durchgehen – politische Verfolgung, sonstige Verfolgung nach Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiärer Schutz bei bewaffneten Konflikten, dann kommen Sie mit Sicherheit auf 300 Millionen Menschen, für die eine der Voraussetzungen gilt. Die EU kann aber nicht 300 Millionen Leute aufnehmen. Da bin ich wieder bei Ruud Koopmans, der sagt: Gerade die Schwächsten bekommen bei diesem Wettlauf keinen Schutz. Zum Beispiel Menschen, die im Jemen eingekesselt sind. Wenn wir ihnen helfen wollen, müssen wir das Gemeinsame Europäische Asylsystem umbauen, und zwar in einer Weise, die weit über die jetzt kommende Reform hinausgeht. Und das heißt: Aufnahme in Drittstaaten. In Ländern wie Ruanda, wie Mauretanien, wie den Maghreb-Staaten oder Uganda. Diese Idee ist jetzt auch im CDU-Grundsatzprogramm verankert. Wenn wir mit solchen Länden zusammenarbeiten, können wir Schleppern das Handwerk legen. Rund 25.000 Menschen sind in den vergangenen 10 Jahren im Mittelmeer umgekommen, schätzungsweise 50.000 auf dem vorherigen Weg, insbesondere durch die Sahara. Dieses Sterben müssen wir beenden. Wir müssen die Menschen von der Idee abbringen, sie könnten einen Schlepper bezahlen und dann zu uns kommen.

Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es nur und zu Recht, einen Flüchtling in eine Situation zu bringen, in der ihm Verfolgung droht. Sie verbietet es nicht, ihn in einen Drittstaat zu bringen, in dem er eine Perspektive hat.
Detlef Seif

Aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Modell Ruanda gestoppt.

Richtig, und zwar mit einer Entscheidung, die sogar Gefährder und schwere Straftäter schützt. Aber der Gerichtshof ist eine Einrichtung des Europarats. Und dessen Mitgliedsstaaten können sich darauf einigen, dem Gerichtshof eine Auslegungshilfe zu geben. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es nur und zu Recht, einen Flüchtling in eine Situation zu bringen, in der ihm Verfolgung droht. Sie verbietet es nicht, ihn in einen Drittstaat zu bringen, in dem er eine Perspektive hat. Unser Ziel ist es also: Jemand, der zu uns kommt, wird in einen sicheren Drittstaat gebracht, der das Verfahren durchführt. Wenn er schutzbedürftig ist, kann er dort bleiben. Das unterscheidet uns von Politikern der SPD, die die Antragsteller im Erfolgsfall wieder in die EU holen wollen. Das würde aber einen gewaltigen zusätzlichen Pulleffekt auslösen, wenn es Zentren in Drittstaaten gäbe, wo man gleich einen Antrag auf Einreise in die EU stellen kann. Allerdings können wir in Zusammenarbeit mit den UN und der Internationalen Organisation für Migration besonders Schutzbedürftige auswählen, denen wir in der EU Schutz gewähren – entsprechend einer Belastungsgrenze, die wir von Jahr zu Jahr definieren. Dabei müssen die Zahlen aber deutlich niedriger sein als in den vergangenen Jahren.

Bieten die von Ihnen genannten Länder die Perspektive, die die Flüchtlinge brauchen? Aus dem Maghreb kommen viele Migranten zu uns, weil dort die Arbeitslosigkeit so hoch ist. Wie sollen noch zusätzlich Flüchtlinge dort leben?

Das ist ein wichtiger Punkt. Im Augenblick haben wir beispielsweise mit Marokko schon Schwierigkeiten, das Land dazu zu bringen, die eigenen Staatsbürger zurückzunehmen. Ein Anreiz könnten Migrationsabkommen auf Augenhöhe sein, die auch den anderen Staaten etwas bringen, etwa im Bereich der Ausbildung und Visaerteilung. Wenn das klappt, wird die Bereitschaft zur Rücknahme eigener Staatsbürger steigen und werden gegebenenfalls Asylzentren möglich sein. Immerhin gibt es die Initiative von EU-Kommissar Magnus Brunner, in sicheren Drittstaaten Rückführungszentren für vollziehbar Ausreisepflichtige zu schaffen. Das wäre schon eine deutliche Verbesserung und könnte die Initialzündung für Asylverfahren in sicheren Drittstaaten sein.

Sie sagten schon vorhin, Leuten in einer Notsituation müssen wir helfen. Was ist dann mit den Afghanen, die trotz deutscher Aufnahmezusage in Pakistan festsitzen?

Wir haben unter der Vorgängerregierung 37.000 Menschen über die verschiedenen Programme aus Afghanistan aufgenommen. Das Verfahren, und das hat die Union immer kritisiert, war intransparent. Die Auswahl trafen rund 100 Nichtregierungsorganisationen. Es gab Vetternwirtschaft, die Initiatorin des Vereins Kabul-Luftbrücke, Theresa Breuer, ist deshalb ausgestiegen. Das Auswärtige Amt hat im Fall des Mohammad G. die Weisung zur Aufnahme erteilt, obwohl der vorgelegte Pass eindeutig gefälscht war. In anderen Fällen wurden sogenannte Proxy-Ausweise vorgelegt, Papiere, die ein anderer für den Inhaber beantragt hat, die Identität also gar nicht sicher war. Da ist nicht rechtmäßig gearbeitet worden. Jetzt ist sorgfältig zu prüfen: Handelt es sich bei der Aufnahmezusage überhaupt um einen rechtskräftigen Verwaltungsakt? Wenn ja, muss als nächstes eine Sicherheitsüberprüfung folgen. Wenn sich herausstellt, dass ein Betroffener zwar keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme hat, aber als ehemalige Ortskraft besonders gefährdet ist, werden wir ihn mit Sicherheit aufnehmen. Wir werden aber wegen der Überlastung unseres Landes keine neuen Aufnahmeprogramme mehr auflegen.

Wir haben viele ukrainische Flüchtlinge hier, meist gut qualifizierte Leute, die aber in erstaunlich geringem Maße berufstätig sind. Was können wir da tun?

Ich sehe eines der größten Probleme darin, dass wir zu großzügig Leistungen bereitstellen. Friedrich Merz hat zurecht gesagt, dass man gar nicht den Bürgergeldempfängern einen Vorwurf machen kann, sondern dem Staat wegen der Bedingungen, unter denen er Bürgergeld gewährt. Wenn sie durch Nichtstun dasselbe erreichen können wie durch Arbeit, werden sich viele fürs Nichtstun entscheiden. Kurz: Wir müssen das Bürgergeld wirksam reformieren, und da müssen wir auch diese Menschen in den Blick nehmen.

Gibt es da nicht noch einen anderen Grund? Eine ukrainische Ärztin könnte viel mehr verdienen als den Betrag des Bürgergeldes, wenn sie in ihrem Beruf arbeiten dürfte.

Ja, da müssen wir deutlich besser werden: bei der Willkommenskultur für Menschen, die eine Ausbildung haben. Oft reicht eine kleine Zusatzqualifikation. Diesen Menschen müssen wir es einfacher machen. Leider geht es auch sonst vielen Fachkräften so, die zu uns wollen: Die werden zurzeit nicht mit Kusshand genommen, denen hilft niemand durch den Behördendschungel. Ihre Fälle werden in den Ausländerbehörden zweitrangig bearbeitet, denn die Mitarbeiter müssen zuerst an die vielen Asylfälle mit den Fristen denken, die ablaufen. Auch Ausländer, die hier studieren und einen Abschluss machen, lassen wir viel zu schnell wieder ziehen. Gerade hier wird die von der Koalition beschlossene Work-and-Stay-Agentur helfen. In jedem Fall brauchen wir einen kompletten Umbau des europäischen Asyl- und Migrationssystems – auch in dieser Hinsicht.