Interview mit Ex-Bundespräsident Gauck zur Ukraine„Das ist eine ganz furchtbare Situation“

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31.01.2023, Sachsen, Leipzig: Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident

Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident

Wie wichtig sind die Menschenrechte in anderen Ländern und Kulturen? Über diese Frage spricht Bastian Klenke mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck.

Als Bundespräsident sind Sie unter anderem nach Äthiopien, Südafrika und Myanmar gereist. Aber Sie waren auch in Nigeria, Mali und China. Wie haben Sie die Menschenrechte dort wahrgenommen? Ist das Thema in anderen Ländern ein Wunsch?

Vor allem sollten wir uns fragen, für wen Menschenrechte ein Thema sind in all diesen Ländern. Und das ist es für die Mehrheit der Menschen, die unterdrückt werden. Es gibt Länder wie China, wo so getan wird, als seien die Menschenrechte ein westliches Bedürfnis; das ist ein großer Unfug. Als die Menschenrechte von den Vereinten Nationen niedergeschrieben wurden, kamen Einflüsse aus der ganzen Welt zusammen, welche Rechte der Mensch braucht und wie seine Rolle bewertet werden soll. Unser Grundgesetz spricht von der Würde, die dem Menschen Rechte gibt. Das können besonders die Menschen nachvollziehen, denen ebenjene Rechte genommen werden. Sie haben in Afrika, in Asien, aber zum Teil auch in Südamerika Länder, wo teilweise oder ganz Bürger- und Menschenrechte nicht gewährt werden. Und dann gibt es Teile der Welt, die sagen: Na ja, das haben sich die westlichen Länder ausgedacht, aber das entspricht gar nicht unserer Kultur.

Wo wird den Menschen vermittelt, dass die Menschenrechte nicht der Kultur entsprächen?

Beispiele dafür finden wir in einigen Monarchien in den arabischen Ländern, in denen Könige die absolute Macht haben – und die natürlich freie, gleiche und geheime Wahlen nicht gebrauchen können. Hier wird das Recht auf Selbstbestimmung verletzt oder gar nicht gewährt. Sie dürfen keine Meinungsfreiheit haben oder werden wegen einer anderen Religion verfolgt, wie es in Myanmar mit der Verfolgung der Rohingya passiert ist. Die muslimische Bevölkerungsgruppe wurde von der buddhistischen Mehrheit vertrieben. In China, in Russland, im Iran und zahlreichen anderen Staaten überall auf der Welt gibt es Menschen, die händeringend danach trachten, Menschenrechte zu haben und zum Teil blutig verfolgt werden. Die Herrschenden verweisen auf eine vermeintlich andere Kultur, für die das nicht gelte. Doch von genau dieser Kultur halten die unterdrückten Menschen wenig. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns nicht einschüchtern lassen von denen, die im südlichen Teil der Welt oder in anderen Gebieten sagen, Menschenrechte seien westliches Gedankengut. Das ist ein Irrtum und dient dazu, Unrecht und undemokratische Herrschaftsformen zu rechtfertigen.

Wie betrachten Sie dieses Thema in Bezug auf den Konflikt in der Ukraine, wo Russland ein souveränes Land überfällt, den Bürgern alle Rechte abspricht und freie Wahlen nicht akzeptiert?

Das ist eine ganz furchtbare Situation. Viele Menschen in Europa haben gedacht, sie würden so einen Angriffskrieg in Europa nicht mehr erleben. Deutschland weiß aus seiner Geschichte genug über Angriffskriege: Wir hatten sogenannte Erbfeinde wie die Franzosen, und heute ist es unvorstellbar, gegen Frankreich Krieg zu führen. Aber für Herrn Putin, den russischen Diktator, ist es offenbar kein Problem, gegen ein Nachbarland Krieg zu führen, weil er will, dass die Ukraine zu seinem Reich gehört. Krieg wird als legitimes Mittel der Politik betrachtet, das hat er schon zum Beispiel in Tschetschenien oder Georgien unter Beweis gestellt. Es zeigt sich hier eine schreckliche Tradition: Auch unter dem russischen Zaren und den Kommunisten gab es die Vorstellung, dass die russische Nation wichtiger ist als die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Nachbarnationen.

Das trifft die Menschen in der Ukraine natürlich besonders. Sehen Sie dort den Kampf um die Menschenrechte heranwachsen?

Die Ukrainer haben selber in einer Freiheitsrevolution gezeigt, dass sie Menschenrechte wollen. Sie sind Teil Europas und wollen Europäer sein. Sie wollen Bürgerrechte haben und selbstbestimmt leben. Deshalb sind wir in Deutschland und Europa verpflichtet, ihnen beizustehen. Wir teilen gemeinsame Werte, und es gibt in diesem Fall ein klares Schwarz-Weiß. Es gibt einen Unschuldigen, die Ukraine, und einen Schuldigen, der mit dem Recht des Stärkeren über andere herfällt. Dieses Recht des Stärkeren will eine Politik der Menschenrechte und des Völkerrechts brechen. Genau deshalb haben wir Demokratien, damit Recht herrscht und nicht die unkontrollierte Macht. Nicht die Gewehre, nicht die Panzer, nicht die Atomraketen sollen bestimmen, sondern das Recht soll bestimmen, wie die Völker miteinander umgehen und was in ihrem Land passiert. Das sehen Diktatoren anders – und Putin hat sich Schritt für Schritt in einen Diktator verwandelt.

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